Leseprobe – „Wenn die Sehnsucht bleibt“
Kapitel 1
Mallorca
Eine steife Brise wehte vom Meer landeinwärts. Die Kronen der Kiefern über ihm bogen sich im schneidenden Wind, als er aus dem Wagen stieg und auf den Leuchtturm am Cap de Ses Salines zulief.
Seit einem Jahr lebte Julian jetzt zurückgezogen auf Mallorca. Er genoss es, sich aus allem herauszuhalten und vergrub sich hinter seinem Schreibtisch, vor seinem Bildschirm. Arbeit war die beste Ablenkung.
Natürlich kannte er einige Leute im nahe gelegenen Es Llombards. Man wechselte hin und wieder einige Worte. Außerdem hatte er Mark, einen Deutschen, kennengelernt, bei dem er so etwas wie freundschaftliche Gefühle zuließ. Aber das war es auch schon, mehr brauchte er nicht.
Der Wald blieb hinter ihm zurück und Wacholderbüsche säumten seinen Weg. Er erreichte die Küste, an der sich schaumgekrönte Wellen brachen. Weiß glitzernd versank die gurgelnde Gischt in den porösen Zwischenräumen der Felsen, die das Wasser über die Zeit in den Stein gefressen hatte.
Gedankenverloren schaute Julian aufs Meer hinaus. Unter der bleiernen Wolkenschicht verschwammen die Umrisse der vorgelagerten Insel Cabrera mit dem aufgepeitschten Meer. Einige besonders mutige Kitesurfer nutzen die Gunst der Stunde, um im Schutz ihrer Neoprenanzüge Wind und Wellen zu trotzen.
Knapp zwei Wochen war es her, da hatte er die Einladung zu einem Gartenfest im Haus eines seiner Kunden erhalten. Ursprünglich hatte er absagen wollen, war dann aber doch hingegangen. Ein fataler Fehler, wie er heute wusste, denn ausgerechnet an diesem Abend war Isabelle zugegen; eine junge Frau, die ihrem Namen alle Ehre machte.
Die langen, braungebrannten Beine unter dem kurzen Rock waren ihm als erstes aufgefallen. Danach war sein Blick auf schwindelerregend hohe Absätze gefallen, auf denen sich die Blondine sicher bewegte. Unverzüglich hatten ihre blauen Augen seinen Blick gesucht. Vielleicht weil er der einzige Single auf dieser lockeren Grillveranstaltung war.
Im Nachhinein wusste Julian nicht einmal mehr, wieso er so lange geblieben war. Vielleicht, weil es seiner Eitelkeit geschmeichelt hatte, von einer schönen, jungen Frau angehimmelt zu werden?
Schon möglich.
Als sie ihn zu späterer Stunde fragte, ob er sie nach Hause fahren könne, hatte er zugestimmt, da ihr Haus ohnehin auf seinem Weg lag. Erst als er den Wagen vor dem Tor einer Finca zum Stehen brachte und er ihre Lippen auf seinem Mund spürte, war ihm klar geworden, dass Isabelle sein Interesse an ihr eindeutig überbewertet haben könnte.
Seit diesem Abend litt Julian unter Verfolgungswahn. Egal, ob er nach einem Kundengespräch einen Abstecher in eines der Straßencafés in Santanyí machte oder im Restaurant an der Strandpromenade von Colònia de Sant Jordi saß, ständig tauchte wie zufällig Isabelle in seiner Nähe auf. Dabei war ihm nach allem zumute, nur nicht nach einer Affäre oder gar einer Beziehung. Ihr anzügliches Augengeklimper ging ihm auf die Nerven, genauso, wie das perlende Lachen, das ständig über ihre rot geschminkten Lippen kam.
Er wandte sich vom Meer ab. Der ausgetretene Weg erstreckte sich vom Cap de Ses Salines in westliche Richtung. Salzhaltiger Wind wehte ihm ins Gesicht und das Donnern der brechenden Wellen übertönte alle anderen Geräusche.
Erleichtert atmete er aus. Wie es aussah, war sie ihm hierher ausnahmsweise nicht gefolgt. Wie denn auch? Auf dem unebenen, von Wurzeln und Felsen übersäten, Trampelpfad wäre sie auf ihren hohen Hacken kaum sehr weit gekommen.
Bei dem rasanten Tempo, das er anschlug, dauerte es nicht lange, bis er zu dem Felsplateau gelangte, hinter dem er freie Sicht über die Cala Caragol bekam. Sein Blick glitt über die Bucht, die zur Landseite hin von hügeligen Dünen begrenzt wurde. Dahinter erstreckte sich ein aus Büschen bestehender Grüngürtel, der in einen Wald überging. Der Sandstrand versank unter angeschwemmtem Seetang, der erst mit Beginn der Saison vom Reinigungsdienst entfernt werden würde. Keine Menschenseele war zu sehen und seine Wut ebbte langsam ab. Er würde Isabelle irgendwann deutlich machen müssen, dass er kein Interesse an einer Vertiefung ihrer Beziehung hatte. So einfach war das!
Zielstrebig ging er auf das Wasser zu. Am Strand ließ er den Rucksack von den Schultern gleiten und holte ein Handtuch hervor. Während er sich auszog, verursachte der stürmische Wind eine Gänsehaut auf seinem Körper. Aber das störte ihn nicht. Die Fluten rollten mindestens so aufgewühlt an Land, wie er sich innerlich fühlte. Nach dem Schwimmen würde es ihm besser gehen.
***
Deutschland
Janice schlich durch die angelehnte Tür ins Zimmer. Ihr vierzehnjähriger Bruder Kevin saß mit verschränkten Armen auf seinem Bürostuhl. Die langen Beine übereinandergeschlagen, ruhten seine ausgetretenen Turnschuhe auf der Ecke der Schreibtischplatte, die unter Schulbüchern, Heften und darüber geworfenen Kleidungsstücken versank. Leise seufzend strich er sich eine blauschwarze Haarsträhne aus der Stirn, dann bemerkte er seine Schwester und ein Lächeln erhellte seine Züge.
»Hey, Kleine, was geht?« Er ließ die Füße herabsinken und schwang auf seinem Drehstuhl zu ihr herum.
Zögernd blieb Janice stehen und trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Die Lippen zu einem Schmollmund verzogen, sah sie ihren Bruder aus dunklen Augen an. »Wieso schreit er immer so? Das hat Papa nie getan!«
Kevin breitete die Arme aus und winkte seine Schwester zu sich heran. »Komm her, du Drops«, antwortete er verständnisvoll.
Janice setzte sich in Bewegung und kletterte auf seinen Schoß. Ratlosigkeit spiegelte sich in ihren kindlichen Zügen. »Weswegen hat er sich denn jetzt schon wieder so aufgeregt?«
Beruhigend strich Kevin Janice über die dunkle Haarpracht und barg ihren Kopf an seiner Brust. Papa hatte sie immer liebevoll sein Feenkind genannt. Sie war klein und zierlich, mit langen schwarzen Haaren und betörenden dunklen Augen, die für eine Zehnjährige zu ernst blickten.
»Ach, erst meckern, dann fragen!«, versuchte Kevin zu beschwichtigen. »Robert ist früher als erwartet nach Hause gekommen, und natürlich ist er davon ausgegangen, dass ich die Zeit am Computer vergessen habe. Dabei hatte ich seine To-do-Liste, die er mir gestern Abend noch aufgedonnert hat, längst erledigt. Schließlich hat er sich ja deutlich genug ausgedrückt.«
Bebend holte Janice Luft. »Die Sachen von Papa, meinst du?« Kläglich blickend, hob sie ihm ihr Gesicht entgegen.
Kevin nickte. »Ich fand es auch nicht lustig, das kannst du mir glauben! Allerdings hat Robert nicht ganz Unrecht, wenn er sagt, dass Mama nach zwei Jahren langsam aussortieren sollte. Es muss ja schrecklich für sie sein, jeden Morgen an den Kleiderschrank zu gehen und Papas Klamotten zu sehen, als wäre nichts geschehen. Also habe ich vorhin, während Mama Juli gebadet hat, alles fein säuberlich in Kisten verpackt. Der Schrank auf Papas Seite ist jetzt leer.«
Pfeifend stieß Janice die Luft aus und rutschte von Kevins Schoß. Die kleinen Hände zu Fäusten in die zierliche Taille gestemmt, baute sie sich vor ihrem Bruder auf. Empörung spiegelte sich in ihren feucht schimmernden Augen. »Für mich kann Robert Papa nicht in Kisten packen! Meinetwegen soll er hier einziehen und alles verstecken, was ihn an Papa erinnert. Ich werde ihn immer vermissen!«
Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf und warf sich schmollend, der Länge nach, auf das ungemachte Kastenbett ihres Bruders. Sie schnappte sich ein Kissen und umschlang es mit beiden Armen. »Irgendwie war er vorher netter, findest du nicht? Ich meine, als er immer mal zu Besuch kam und noch nicht hier übernachtet hat …«
»Mama meint, wir verunsichern ihn manchmal, weil er selbst keine Kinder hat. Da meint er wohl, erziehungstechnisch ein bisschen mitmischen zu müssen.«
»Zu Juli ist er trotzdem anders, da ist er nie so streng!«, überlegte Janice laut. »Und angeblafft hat er sie auch noch nie.«
»Juli ist ja auch noch ein Baby«, setzte Kevin zu einer Erklärung an. »Vielleicht macht es das für ihn leichter. Außerdem denke ich in diesem Fall eher an Mama. Seit sie Robert kennt, geht es ihr wieder gut. Und wenn die beiden jetzt eben zusammen sind, sollten wir das Beste draus machen. Mama lacht wieder. Das haben wir uns damals so sehr gewünscht.«
Versonnen sah Janice auf die abgetretenen Holzdielen, die unter dem blauen Teppich, der vor dem Bett lag, zu sehen waren. Das Bild ihrer Mutter, völlig aufgelöst im Wohnzimmer sitzend, stand ihr deutlich vor Augen. Die Haare hatten strähnig um ihr verweintes Gesicht geklebt. Sie wollte nichts essen, konnte nicht schlafen, und an Arbeiten war auch nicht zu denken.
Ohne Kevin und Mamas Freundin Karen, hätte Janice diese einsame Zeit kaum überstanden. Ihr Bruder hatte sie getröstet und zur Schule gebracht, sich um das Essen gekümmert und einen Schlüssel für die Haustür nachmachen lassen, damit sie Mama nicht störte, so diese denn einige Stunden Schlaf fand. Karen war zwar jeden Tag vorbeigekommen und half, wo immer Not am Mann war, aber auch sie konnte Mama nicht aus ihrer tiefen Verzweiflung reißen. Deshalb hatte sie schließlich Kontakt zu einem Therapeuten aufgenommen, den Mama schlussendlich auch aufsuchte.
Einige Wochen später waren tatsächlich erste Veränderungen eingetreten. Mama wirkte nicht mehr ganz so gehetzt und verunsichert und wurde wieder zu der Mutter, die Janice kannte.
Von da ab war ihr Leben wieder normal verlaufen. Außer, dass Papa so schrecklich fehlte.
Schließlich hatte Mama ihnen mitgeteilt, dass sie noch ein Geschwisterchen bekommen würden, und Janice war außer sich gewesen vor Freude. Nach Julis Geburt war Robert dann zum ersten Mal zu Besuch gekommen und Janice fand ihn eigentlich ganz nett, zumal er es schaffte, Mama wieder zum Lachen zu bringen. Außerdem konnte er ihr, einem damals achtjährigen Mädchen, in verständlichen Worten erklären, was in ihrer Mutter vorgegangen war.
»Meinst du, es wird besser, wenn er erst ganz hier wohnt?«, fragte Janice hoffnungsvoll und schwang ihre Beine aus dem Bett.
»Kann sein«, überlegte Kevin. »Ich finde jedenfalls, wir sollten uns Mühe geben. Nach allem was Mama hinter sich hat, verdient sie es, wieder glücklich zu sein.«
»Stimmt!«, bestätigte Janice und kam auf die Füße. »Kommst du mit runter? Wir könnten den Tisch für das Abendessen decken. Das wäre doch nett von uns. Findest du nicht?« Verschmitzt zog sie eine Schnute.
»Bevor er uns ruft, meinst du?« Kevin grinste seiner Schwester verschwörerisch zu. »Das ist keine deiner schlechtesten Ideen, Schwesterchen. Also komm! Aber die Spülmaschine räume ich nicht schon wieder aus, das kannst du heute machen.«
»Och Manno!«, maulte Janice und folgte Kevin auf den Flur.
***
Mara beugte sich über das Kinderbettchen und strich ihrer fünfzehn Monate alten Tochter zärtlich die rotbraunen Locken aus der Stirn. Die Kleine schlief endlich friedlich und ein rosiger Hauch lag auf ihren Wangen.
Die letzten beiden Tage waren für Mutter und Kind ziemlich anstrengend gewesen. Ein kleiner, scharfer Backenzahn hatte sich aus Julis Unterkiefer geschoben, und das Fieber war in die Höhe geschossen, wie selten zuvor. Nach dem ausgiebigen Bad, das die Kleine am Nachmittag laut vor sich hin glucksend genossen hatte, glühte ihre Stirn nicht mehr, und die roten Fieberbäckchen waren verschwunden.
Mara ließ die kleine Bärenlampe auf der rosa gestrichenen Wickelkommode, die neben dem Kinderbettchen stand, brennen und verließ das Zimmer. Die Tür lehnte sie an, falls ihre Tochter aufwachen sollte.
Die alten Holzdielen knarrten unter ihren Füßen, als sie hinüber ins Schlafzimmer ging und seufzend auf ihr zerwühltes Bettlaken sank. Zwei durchwachte Tage und Nächte hatten deutliche Spuren hinterlassen. Der Laptop auf ihren Schreibtisch verschwand fast gänzlich unter einem Knäuel Handtücher, die zerknüllt neben der Schüssel mit dem Essigwasser für die Wadenwickel lagen. Halb geleerte Tee- und Wasserfläschchen befanden sich neben Porzellanschalen, in denen der Brei längst getrocknet war. Das Buch, an dem Mara gerade arbeitete, lag aufgeschlagen neben einer Tasse kaltem Kaffee. Dahinter stand ein Teller mit einem angeknabberten Stück Brot und einer verschrumpelten Scheibe Paprika. Ein ordentlicher Arbeitsplatz sah irgendwie anders aus.
Da sie sich nicht aufraffen konnte aufzustehen, schaute sie sich in ihrem behaglichen Schlafzimmer um. Erst vor drei Tagen hatte sie ihr Arbeitszimmer im ersten Stock geräumt, weil Robert demnächst bei ihr einziehen wollte. Deshalb hatten ihre, prall mit Büchern gefüllten, Regale in der rechten Ecke neben der Zimmertür ihren Platz gefunden. Zusammen mit dem davorstehenden, antiken Schreibtisch, sorgten sie für eine behagliche Atmosphäre.
Tief ausatmend kam Mara auf die Füße. Vorbei an ihrem Kleiderschrank aus massivem Kiefernholz, trat sie auf die gläsernen Flügeltüren zu, die hinaus auf die Terrasse und in den Garten führten. Hauchdünne, weiße Gardinen rahmten die beiden Türen mit ihren hölzernen Sprossenfenstern ein, hinter denen der Garten im fahlen Licht der schwindenden Sonne lag. Obwohl es bereits Ende April war, hatte noch gestern Schnee den Büschen glitzernde Konturen verliehen. Heute ragten die kahlen Äste der Bäume düster, statt mit Zucker überzogen, in den wolkenverhangenen Himmel.
Mara streckte sich, kramte in der Kommode nach frischer Unterwäsche und zog endlich den Schlafanzug aus, aus dem sie den ganzen Tag nicht herausgekommen war. Ihre Jeans und der Rollkragenpullover von gestern lagen noch auf dem Stuhl. Rasch schlüpfte sie hinein und stolperte mit schleppenden Schritten über den Flur ins Bad, um sich die Haare zu kämmen.
Der Spiegel zeigte das Bild einer Frau mit dunklen Schatten unter den Augen. Sie sah tatsächlich so müde aus, wie sie sich fühlte!
Nur gut, dass Robert nach wie vor in seiner Wohnung wohnt, dachte Mara, während sie die Bürste durch ihre rotbraunen Haare gleiten ließ. Hier, bei ihr, hätte er in den letzten beiden Nächten kaum zwei Stunden Schlaf am Stück bekommen.
Seit etwas mehr als einem Jahr waren sie und Robert nun ein Paar und nur zu gerne würde Mara ein ganz normales Leben führen, so wie früher, vor dem Unfall, der ihr Leben so drastisch verändert hatte. Gleichzeitig ließ die Endgültigkeit, die mit Roberts bevorstehendem Einzug einherging, immer öfter Panik in ihr aufsteigen. Was, wenn sie mehr Zeit benötigte? Wenn das alles viel zu schnell ging?
Beschwörend blickte Mara ihrem Spiegelbild entgegen: »Die Vergangenheit liegt hinter dir! Du kannst nichts daran ändern, nichts mehr ungeschehen machen. Lass sie hinter dir. Erst danach gibt es ein Morgen.«
Mara mochte nicht mehr im Selbstmitleid versinken und war dankbar für einen Menschen wie Robert, ohne den sie die Kraft nicht aufgebracht hätte, ihren Kindern wieder eine gute Mutter zu sein. Darüber, wie ihre Schwangerschaft mit Juli verlaufen wäre, wollte sie nicht einmal nachdenken.
Ja, es gibt ein danach!
Fröstelnd strich Mara sich mit den Händen über die Oberarme und lief ins Schlafzimmer zurück.
Es konnte eigentlich nur an der bleiernen Müdigkeit liegen, dass sie in ihrem Rollkragenpullover fror. In Gedanken versunken schlenderte sie zum Schrank hinüber und öffnete die linke Tür, in der Erwartung, hier auf den vertrauten Anblick von Julians Pullovern und T-Shirts in den Regalen zu stoßen. Aber die Ablagen waren leer. Auf der Kleiderstange hingen nur nackte Bügel.
Fassungslos taumelte Mara einen Schritt rückwärts, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten, bis sich die Fingernägel schmerzhaft in die Handballen gruben. Die Jacke! Wo war die Stickjacke geblieben, die sie Julian vor so vielen Jahren an langen Winterabenden gestrickt hatte? Sie brauchte diese Jacke, kam sich schutzlos vor, wenn sie die weiche Wolle nicht um ihre Schultern spürte.
Dann kam die Erinnerung zurück.
Tatsachen akzeptieren, nannte Robert das. Das Gestern hinter sich lassen, um das Morgen willkommen zu heißen. Alle Sachen von Julian mussten endgültig aus den Schränken und aus ihrem Leben verschwinden. Sie selbst hatte zugestimmt, damit schnellstmöglich zu beginnen. Aber auch die Strickjacke?
»Nein!«, flüsterte Mara zu sich selbst, wobei ein Zittern in ihrer Stimme mitschwang »Das geht entschieden zu weit!«
Wie gehetzt stürzte sie aus dem Schlafzimmer und stürmte durch den Flur des alten Hauses in Richtung Küche. Ihre bebenden Finger umfassten die Klinke der Küchentür und ihr Herz schlug vor Aufregung. Sie würde ruhig bleiben — auch das hatte Robert ihr beigebracht. An sich zu denken und nur das zu tun, was ihr gut tat. Tief ausatmend schob sie endlich die Tür auf.
Kevin und Janice waren damit beschäftigt, den langen Eichentisch zu decken. Robert, der gerade Tee aufbrühen wollte, stand vor der modernen Küchenzeile neben dem alten gusseisernen Herd. Er hielt die Kanne des Wasserkochers in der Hand. Als er Mara erblickte, verdunkelten sich seine Züge. Er ließ die Kanne auf die Ablage sinken, und eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. Mara wusste, was er gleich sagen würde. Sie kannte jedes Mantra, mit dem er sie zu schützen suchte. Doch allein bei der Vorstellung, sich nie wieder in dieser Jacke verkriechen zu können, tat sich eine hoffnungslose Leere vor ihr auf.
Da sie sich nicht in der Lage fühlte, Roberts Blick weiter Stand zu halten, wandte Mara sich an ihren Sohn. »Wo ist die Strickjacke, Kevin?«
Kevin nagte an seiner Unterlippe. »Sie ist im Keller, bei Papas Sachen. Ich habe vorhin alles ausgeräumt, so wie Robert es mir aufgetragen hat. Ich dachte, die Jacke gehört auch dazu.«
»Das war auch völlig korrekt, Kevin«, entschied Robert in seinem besonnenen Tonfall, mit dem er gewöhnlich auf seine Patienten einredete. »Wir können in die Stadt fahren und dir eine neue Jacke kaufen, Schatz«, versprach er und zwinkerte Mara aufmunternd zu.
»Ich will aber keine neue Jacke!«, entgegnete Mara gereizt. »Diese Jacke gehört mir, und ich muss mich wohl kaum rechtfertigen, wenn ich sie wiederhaben will! In welcher der Kisten liegt sie, Kevin?«
Robert holte vernehmlich Luft und trat einen Schritt auf Mara zu. »Du wirst dir diese Strickjacke nicht wiederholen, Liebes«, ermahnte er sie mit Bestimmtheit. »Wir hatten uns darauf geeinigt, dass du die Vergangenheit hinter dir lässt, und dazu gehört auch diese Jacke.«
Mara fühlte sich gemaßregelt und hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. Sie war unausgeschlafen, fühlte sich verletzlich und wollte keinen Vortrag darüber hören, dass Julian nicht mehr zu ihrem Leben gehörte! Sie wollte nur in ihre Jacke schlüpfen und die weiche Wolle an ihrem Körper spüren. War denn das zu viel verlangt?
Ohne ein weiteres Wort stürmte sie aus der Küche und rannte durch den Flur, bis sie die Tür zum Kellerabgang erreichte, die sie mit einem Ruck öffnete. Ihre zitternden Finger tasteten nach dem Lichtschalter an der Wand, der sich, hohl klickend, drehen ließ. Eine nackte Glühbirne erhellte die ausgetretenen Treppenstufen, die in das kalte Kellergewölbe hinab führten.
Wie von Furien gehetzt, rannte Mara nach unten. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen, und sie zog fröstelnd die Schultern hoch. Am Ende des Vorraums, in dem ausrangierte Möbel unter verstaubten Laken standen, führte ein langer Gang tiefer in den Keller hinein. Mehrere Verschläge, die früher zum Lagern der Feldfrüchte gedient hatten, kamen in Sicht, und auch hier fand sich einer dieser vorsintflutlichen Lichtschalter, der sich klackend drehte.
Im schwachen Lichtschein der flackernden Glühbirne, eilte Mara auf den hintersten Verschlag zu, dessen Tür beim Öffnen quietschte. Vor einer, von Spinnenweben überzogenen, Wand standen nebeneinander aufgereihte Kartons.
Als hinge ihr Leben davon ab, riss Mara den Deckel von der ersten Kiste, die ihr in die Quere kam, aber es befanden sich nur Hemden darin.
Deckel für Deckel glitt beiseite und ihre Hände wühlten sich durch die Kleidungsstücke. In der vorletzten Kiste kam endlich das Norwegermuster zum Vorschein, das sie vor so vielen Jahren in verschiedenen Grautönen, Masche für Masche, ausgezählt hatte. Erleichterung durchströmte ihren zitternden Körper und ein befreiter Stoßseufzer entfuhr ihrem Mund. Sie erschauerte wohlig, als sie sich die weiche Wolle schützend um ihre Schultern legte.
Erst da bemerkte Mara, dass sie nicht mehr allein war. Robert stand, wie festgewachsen, in der Türöffnung. Sein Blick sprach Bände, aber er sagte nichts.
Robert wusste nicht, über wen er sich in diesem Augenblick mehr ärgerte: Über sich selbst oder über Mara. Es gab überhaupt keinen Grund, ihr, wegen so einer Nichtigkeit wie dieser Strickjacke, ein schlechtes Gewissen zu machen. Ihm war durchaus bewusst, was Mara alles hatte verkraften müssen, bevor er sie kennengelernt hatte. Ihr Zusammenbruch war kaum verwunderlich gewesen. Trotzdem hatte sie an sich gearbeitet und war in ein normales Leben zurückgekehrt. Sogar ihm gegenüber hatte sie sich geöffnet, was er anfangs nicht für möglich gehalten hätte. Sie räumte Zimmer in diesem Haus, damit er einziehen konnte und löste sich mehr und mehr aus ihrer Vergangenheit. Und er hatte nichts Besseres im Sinn, als sich mit ihr wegen dieser Jacke zu streiten?
Eifersüchtiger alter Narr!, schalt er sich. Du solltest vernünftig und besonnen reagieren!
Doch es gelang ihm nicht.
»Du weißt, dass ich dein Handeln nicht gutheißen kann!«, fuhr er Mara an. Es glich schon einer Form von Besessenheit, wie wichtig es ihm war, all die Erinnerungen an Julian aus ihrem Leben zu verbannen. »Eine neue Jacke hätte es auch getan! Du gefährdest mit deiner Sturheit nur den Erfolg deiner Therapie, darüber bist du dir hoffentlich im Klaren!«
Mara reckte das Kinn und starrte ihm zornig entgegen. »Weil ich eine Jacke behalten will?«, bemerkte sie eisig.
»Weil wir beschlossen hatten, dass du die Vergangenheit endlich begräbst!«, warf Robert ihr unbeherrscht vor und bemerkte zu spät, dass ihm die Worte unüberlegt herausgerutscht waren.
Betroffen schluckte er. Aus Maras Gesicht war alle Farbe gewichen.
»Findest du nicht, dass ich schon genug begraben habe?«, schleuderte sie ihm anklagend entgegen, und ihre Stimme troff vor Sarkasmus.
Dann sackte sie langsam in sich zusammen und kauerte, ins Leere starrend, auf dem nackten Steinboden.
»Was weißt du denn schon übers Begraben, Robert? Außer dem, was du in deinen schlauen Büchern gelesen hast, weißt du nichts!«
»Überhaupt nichts!«, betonte sie nach einigen Sekunden des Schweigens. »Du kannst es nicht einmal ansatzweise nachempfinden.«
Robert hätte sich ohrfeigen können. Er hatte es vermasselt und völlig überreagiert und damit diese zarte Frau, die ihn von Anfang an in ihren Bann gezogen hatte, völlig unnötig verletzt.
»Es tut mir leid, Mara!«, setzte er zu einer Entschuldigung an. »Es war wirklich eine unglückliche Wortwahl. Ich hätte das nicht sagen dürfen.«
Mara sah aus müden Augen zu ihm auf. »Mir tut es auch leid, Robert. Ich wollte nicht mit dir streiten. Aber diese Jacke kann und will ich nicht einmotten, auch wenn ich beschlossen habe, ein neues Leben zu beginnen. Die Vergangenheit hinter mir zu lassen ist Eines. Sie hingegen gänzlich auszublenden ist unmöglich. Weil Erinnerungen zum Leben dazugehören. Und wir sprechen hier über mein Leben!«
»Ich verstehe, was du sagen willst, Liebes.«
Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen und ihre Blicke verschmolzen miteinander. Braune Augen, in denen man Unsicherheit ob seines Verhaltens erkennen konnte, und blaue Augen, die wortlos um Verzeihung baten.
»Lass uns nach oben gehen und dann isst du erst einmal etwas. Morgen ist Samstag, da schläfst du aus, und ich unternehme etwas mit den Kindern. Danach sieht die Welt gleich anders aus.«
Mara kam auf die Füße und ließ sich von Robert in die Arme ziehen. Sie sehnte sich nach der Harmonie, die sonst zwischen ihnen herrschte.