Maike Hempel

„Mallorca – Wenn die Sehnsucht bleibt“

Leseprobe

 

Janice schlich sich durch die angelehnte Tür ins Zimmer ihres vierzehnjährigen Bruders. Roman saß mit verschränkten Armen auf seinem Bürostuhl und starrte aus dem Fenster. Die langen Beine übereinandergeschlagen, ruhten seine ausgetretenen Turnschuhe auf der Ecke der Schreibtischplatte, die unter Schulbüchern, Heften und darüber geworfenen Kleidungsstücken versank. Leise seufzend strich er sich gerade eine blauschwarze Haarsträhne aus der Stirn, als er seine Schwester bemerkte.

Augenblicklich erhellte ein Lächeln seine Züge. „Hey, Kleine, was geht?“, fragte er lächelnd und ließ die Füße herabsinken, bevor er auf seinem Drehstuhl zu ihr herum schwang.

Zögernd blieb Janice stehen und trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Die Stirn in Falten gelegt und die Lippen zu einem Schmollmund verzogen, sah sie ihren Bruder aus dunklen Augen an. „Wieso schreit er immer so?“, fragte sie unglücklich. „Das hat Papa nie getan.“

„Komm her, du Drops“, antwortete Roman verständnisvoll, breitete die Arme aus und winkte seine Schwester zu sich heran, die sich sofort in Bewegung setzte und auf seinen Schoß kletterte. Ratlosigkeit spiegelte sich auf ihren kindlichen Zügen. „Weswegen hat er sich denn jetzt wieder aufgeregt?“

Beruhigend strich Roman Janice über die dunkle Haarpracht und zog ihren Kopf an seine Brust. Papa hatte Janice immer liebevoll sein Feen Kind genannt, und genauso wirkte sie jetzt auf ihn. Klein und zierlich, mit langen schwarzen Haaren und betörenden dunklen Augen, die für eine Zehnjährige zu ernst blickten.

„Ach, vergiss es!“, versuchte er zu beschwichtigen. „Robert ist nur früher als erwartet nach Hause gekommen und ist natürlich davon ausgegangen, dass ich die Zeit am Computer vergessen habe. Dabei hatte ich seine to-do-Liste, die er mir gestern Abend noch aufgedonnert hat, längst erledigt. Schließlich hat er sich ja deutlich genug ausgedrückt.“

Bebend holte Janice Luft, ihre Mundwinkel zuckten verräterisch und Tränen schossen ihr in die Augen. „Die Sachen von Papa, meinst du?“, fragte sie kläglich und hob ihm ihr Gesicht entgegen.

Roman nickte und zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich fand es auch nicht lustig, das kannst du mir glauben. Allerdings habe ich mir überlegt, dass Robert auch nicht ganz Unrecht hat, wenn er sagt, dass Mama nach zwei Jahren langsam mal aussortieren sollte“, antwortete er nachdenklich. „Muss ja furchtbar für sie sein, jeden Morgen an diesen Schrank zu gehen und Papas Klamotten zu sehen, als wäre nichts geschehen. Also habe ich, während Mama Juli gebadet hat, alles fein säuberlich in Kisten verpackt. Der Schrank auf Papas Seite ist jetzt leer.“

Janice stieß zischend die Luft aus und rutschte von Romans Schoß. Empört baute sich vor ihrem Bruder auf. Die Hände zu kleinen Fäusten in die zierliche Taille gestemmt, schossen feurige Blitze aus ihren feucht schimmernden Augen. „Für mich kann er Papa nicht in Kisten packen“, brauste sie anklagend auf und stampfte mit dem Fuß auf den Dielenboden. „Von mir aus soll Robert hier einziehen und alles wegpacken, was ihn an Papa erinnert, ich werde ihn immer vermissen!“, rief sie leidenschaftlich aus und warf sich der Länge nach auf das ungemachte Kastenbett ihres Bruders. Wütend schnappte sie sich eines der Kissen und umschlang es mit beiden Armen. Einen Augenblick lang befürchtete Roman, sie würde in Tränen ausbrechen, aber Janice rollte sie sich auf die Seite und stützte trotzig den Kopf auf.

„Irgendwie war er vorher netter, findest du nicht?“, fragte sie bockig. „Ich meine, als er nur immer mal zu Besuch kam und noch nicht hier übernachtet hat.“

„Mama meint, wir verunsichern ihn manchmal, weil er keine eigenen Kinder hat. Naja, und da meint er wohl, erziehungstechnisch ein bisschen mitmischen zu müssen“, hob Roman zu einer Erklärung an.

„Zu Juli ist er trotzdem anders, da ist er nie so streng“, überlegte Janice laut. „Und angeblafft hat er sie auch noch nie.“

„Juli ist ja auch noch ein Baby und Robert hat sie von klein an aufwachsen sehen“, setzte Roman zu einer Erklärung an. „Vielleicht macht es das für ihn leichter. Außerdem denke ich in diesem Fall eher an Mama, weißt du. Seit sie Robert kennt, geht es ihr wieder gut, und das rechne ich ihm hoch an. Und wenn sie jetzt eben zusammen sind, sollten wir das  Beste draus machen. Mama lacht wieder. Das haben wir uns damals so sehr gewünscht.“

Janice zog die Stirn kraus und starrte versonnen auf die abgetretenen Holzdielen, die unter dem blauen Teppich, der vor dem Bett lag, zum Vorschein kamen. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Zeit vor fast zwei Jahren, als Mama tagelang weinend und völlig aufgelöst im Wohnzimmer gesessen hatte. Ihr Anblick war grauenhaft gewesen. Die Haare klebten strähnig um ihr verweintes Gesicht, sie wollte nicht essen, konnte nicht schlafen, und an Arbeiten war nicht einmal zu denken. Ohne Roman und Mamas Freundin Karen hätte Janice diese einsame Zeit kaum überstanden.  Ihr Bruder hatte sie getröstet, sie zur Schule gebracht und sich darum gekümmert, dass wenigstens sie etwas aß. Auch einen Schlüssel für die Haustür hatte er nachmachen lassen, damit sie Mama nicht störte, so diese denn einmal einige Stunden Schlaf fand. Karen war jeden Tag vorbeigekommen und half, wo immer sie konnte. Aber auch sie sah sich außerstande, Mama aus ihrer Depression zu reißen. Deshalb hatte sie nach längerem Zögern Kontakt zu einem ihr bekannten Therapeuten aufgenommen, den Mama schlussendlich aufsuchte. Allerdings erst, nachdem Karen ihr lautstark vorgeworfen hatte, sie würde ihre Kinder sträflich vernachlässigen.

Einige Wochen später traten tatsächlich erste Veränderungen ein. Mama wirkte nicht mehr ganz so gehetzt und verunsichert und wurde wieder zu der Mutter, die Janice kannte. Kurze Zeit später hatte Mama ihr und Roman lächelnd erzählt, dass sie noch ein Geschwisterchen bekommen würden und Janice war außer sich vor Freude gewesen. Von da ab war ihr Leben fast wieder normal geworden, außer dass Papa so schrecklich fehlte.

Nach Julis Geburt war Robert dann zum ersten Mal zu Besuch gekommen und Janice fand ihn eigentlich ganz nett. Zumal er es schaffte, Mama zum Lachen zu bringen, so wie Papa früher. Außerdem konnte er ihr, einem damals achtjährigen Mädchen, in einfachen Worten erklären, was in ihrer Mutter vorgegangen war.

„Meinst du, es wird besser, wenn er erst ganz hier wohnt?“, fragte Janice hoffnungsvoll und schwang ihre Beine aus dem Bett.

„Vielleicht“, überlegte Roman. „Ich finde jedenfalls, wir sollten uns Mühe geben. Nach allem was Mama hinter sich hat, verdient sie es, wieder glücklich zu sein.“

„Stimmt auch wieder“, brummte Janice und kam auf die Füße. „Kommst du mit runter? Wir könnten den Tisch für das Abendessen decken. Das wäre doch nett von uns?“, fragte sie verschmitzt und zog eine Schnute.

„Bevor er uns ruft, meinst du?“ Roman grinste seiner Schwester verschwörerisch zu. „Das ist keine deiner schlechtesten Ideen, Schwesterchen, also komm. Aber die Spülmaschine räume ich nicht schon wieder aus, das kannst du heute machen.“

„Och Manno!“, maulte Janice weinerlich, bevor sie Roman hinaus auf den Flur folgte.

 

 ***

 

Mara beugte sich über das Kinderbettchen und strich ihrer fünfzehn Monate alten Tochter Juli zärtlich die rotbraunen Schillerlocken aus der Stirn. Die Kleine schlief endlich friedlich und ein rosiger Hauch lag auf ihren Wangen. Die letzten beiden Tage waren für Mutter und Kind ziemlich anstrengend gewesen. Ein kleiner, scharfer Backenzahn hatte sich schmerzhaft durch Julis Unterkiefer geschoben, und das Fieber war in die Höhe geschossen, wie selten zuvor. Doch nach dem ausgiebigen Bad, das die Kleine am Nachmittag laut vor sich hin gurgelnd genossen hatte, glühte ihre Stirn nicht mehr und die roten Fieberbäckchen waren verschwunden. Mara ließ die kleine Bärenlampe auf der rosa gestrichenen Wickelkommode, die neben dem Kinderbettchen stand, brennen und verließ das Zimmer. Die Tür lehnte sie an, damit sie Juli würde hören können, falls sie noch einmal aufwachte.

Die alten Holzdielen knarrten unter ihren Füßen, als sie hinüber ins Schlafzimmer ging. Seufzend ließ sie sich dort auf das zerwühlte Laken ihres Bettes sinken. Zwei fast durchwachte Tage und Nächte hatten deutliche Spuren hinterlassen. Der Laptop auf ihren Schreibtisch verschwand fast gänzlich unter einem Knäul Handtücher, die zerknüllt neben der Schüssel mit dem Essigwasser für die Wadenwickel lagen. Halb geleerte Tee- und Wasserfläschchen zierten die Tischplatte, neben kleinen Porzellanschalen, in denen der Brei längst festgetrocknet war. Das Buch, das sie gerade übersetzte, lag aufgeschlagen neben einer Tasse abgestandenem Kaffee, auf der ein Teller mit einem angeknabberten Stück Brot und einer verschrumpelten Scheibe Paprika stand. Ein ordentlicher Arbeitsplatz sah irgendwie anders aus.

Da sie sich nicht aufraffen konnte, aufzustehen, sah sich in ihrem behaglichen Schlafzimmer um. Erst vor drei Tagen hatte sie sämtliche Möbel umgestellt, um ihr ehemaliges Arbeitszimmer für Robert räumen zu können, der demnächst bei ihr einziehen wollte. Noch hatte er zwar keinen Nachmieter für sein Penthouse gefunden, doch das konnte sich schnell ändern. Nun standen die prall mit Büchern gefüllten Regale in der rechten Ecke neben der Zimmertür und sorgten für eine gemütliche Atmosphäre in dem langgestreckten Raum. Direkt davor befand sich ihr antiker Schreibtisch mit Blick auf die gläsernen Flügeltüren, die hinaus auf die Terrasse und in den Garten führten.

Tief ausatmend kam Mara auf die Füße und lief an ihrem Kleiderschrank aus massivem Kiefernholz vorbei, auf die Fensterfront zu. Hauchdünne weiße Gardinen rahmten die beiden Türen mit ihren hölzernen Fenstergittern ein. Der Garten dahinter lag im fahlen Licht der schwindenden Wintersonne. Noch gestern hatte der Schnee den Büschen silberne Konturen verliehen, heute ragten die Äste der kahlen Bäume düster, statt mit Zucker überzogen, in den wolkenverhangenen Himmel.

Mara streckte sich und kramte in der Kommode nach frischer Unterwäsche, bevor sie endlich den Schlafanzug auszog, aus dem sie den ganzen Tag nicht herausgekommen war. Ihre Jeans und der Rollkragenpullover von gestern lagen noch auf dem Stuhl zwischen Schrank und Kommode. Rasch schlüpfte sie hinein. Gleich nach dem Abendessen würde sie sich ein heißes Bad gönnen, da lohnte es sich kaum, noch frische Sachen anzuziehen.

Mit schleppenden Schritten ging sie über den Flur ins Bad, um sich die Haare zu kämmen. Der Spiegel warf das Bild einer Frau mit tiefen Schatten unter den Augen und fahler Haut zu ihr zurück. Tatsächlich sah sie so müde aus, wie sie sich fühlte. Nur gut, dass Robert nach wie vor in seiner Wohnung wohnte, dachte Mara, während sie die Bürste durch ihre langen rotbraunen Haare streichen ließ. Hier hätte er in den letzten beiden Nächten kaum zwei Stunden Schlaf am Stück bekommen.

Seit etwas mehr als einem Jahr waren sie und Robert ein Paar. Nur zu gerne wollte Mara ein ganz normales Leben führen, wie damals, vor dem Unfall, der ihr Leben so drastisch verändert hatte. Gleichzeitig verspürte sie bei der Endgültigkeit, die mit seinem bevorstehenden Einzug einherging, immer öfter Panik in sich aufsteigen. Was, wenn sie mehr Zeit brauchte? Wenn das alles viel zu schnell ging?

Beschwörend sah sie ihrem Spiegelbild entgegen: „Die Vergangenheit liegt hinter dir! Du kannst nichts daran ändern, nichts mehr ungeschehen machen“, flüsterte sie sich selbst eindringlich zu. „Lass sie endlich hinter dir. Erst danach gibt es ein Morgen.“

Sie würde nicht wieder im Selbstmitleid ertrinken, wusste inzwischen, wie sie den Schmerz bekämpfen konnte. Sie war dankbar für einen Menschen wie Robert, der den langen Weg bis heute an ihrer Seite gegangen war. Ohne ihn hätte sie die Kraft nicht aufgebracht ihren Kindern wieder eine gute Mutter zu sein und darüber, wie ihre Schwangerschaft mit Juli verlaufen wäre, wollte sie nicht einmal nachdenken.

Ja, es gab ein danach für sie, sie musste den nur den Mut dazu aufbringen.

Fröstelnd strich sie sich mit den Händen über die Oberarme und lief ins Schlafzimmer zurück. Es konnte eigentlich nur an der bleiernen Müdigkeit liegen, die sie einzulullen drohte, dass sie in ihrem Rollkragenpullover fror. Gedankenverloren schlenderte sie zum Schrank hinüber und öffnete die linke Tür, in der Erwartung, hier auf den vertrauten Anblick von Julians Pullovern und T-Shirts in den Regalen zu stoßen. Aber die Ablagen waren leer. Auf der Kleiderstange darunter hingen nur noch nackte Bügel.

Fassungslos taumelte Mara einen Schritt rückwärts und ballte die Hände zu Fäusten, bis sich ihre Fingernägel schmerzhaft in die Handballen gruben. Die Jacke! Wo war die Stickjacke geblieben, die sie Julian vor so vielen Jahren an langen Winterabenden gestrickt hatte? Sie brauchte diese Jacke, kam sich schutzlos vor, wenn sie die weiche Wolle nicht um ihre Schultern spürte!

Dann erinnerte sie sich wieder. Tatsachen akzeptieren, nannte Robert das. Das Gestern hinter sich lassen, um das Morgen willkommen zu heißen. Alle Sachen von Julian mussten endgültig aus den Schränken und aus ihrem Leben verschwinden, richtig. Sie selbst hatte zugestimmt, damit schnellst möglich zu beginnen. Aber auch die Strickjacke?

„Nein“, flüsterte Mara zu sich selbst und in ihrer Stimme schwang ein ungezügeltes Zittern mit. „Das geht entschieden zu weit!“

Wie gehetzt stürzte sie aus dem Schlafzimmer und stürmte durch den Flur des alten Hauses in Richtung Küche. Mit bebenden Fingern umfasste sie die kühle Klinke der Küchentür und holte tief Luft, um sich zu sammeln. Sie würde ruhig bleiben. Ruhig und entschieden. Auch das hatte Robert ihr beigebracht. An sich zu denken. Nur das zu tun, was ihr guttat.

Tief ausatmend schob sie endlich die Tür auf. Roman und Janice waren gerade dabei, den langen Eichentisch zu decken und sahen ihrer Mutter lächelnd entgegen. Robert, der offensichtlich Tee aufbrühen wollte, stand vor der modernen Küchenzeile neben dem alten gusseisernen Herd und hielt die Kanne des Wasserkochers in der Hand. Als er Maras ansichtig wurde, verdunkelten sich seine Züge und er ließ die Kanne auf die Ablage sinken. Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen, während er skeptisch zu ihr herübersah und die Brauen hochzog.

Mara wusste, was er gleich sagen würde, kannte jede Mantra, mit der er sie zu schützen suchte. Aber allein bei der Vorstellung, sich nie wieder in die dieser Jacke verkriechen zu können, schien sich eine hoffnungslose, graue Leere vor ihr aufzutun. Eine Leere, in der sie sich einsam und verlassen fühlte. Da sie sich nicht in der Lage sah, Roberts Blick weiter Stand zu halten, wandte sie sich an ihren Sohn.

„Wo ist meine Strickjacke, Roman?“, fragte sie und versuchte krampfhaft zu lächeln.

Roman nagte an seiner Unterlippe und blinzelte verunsichert. „Sie ist bei Papas anderen Sachen im Keller. Ich habe vorhin alles ausgeräumt, als du Juli gebadet hast, so wie Robert es mir aufgetragen hat. Ich dachte, die Jacke gehört auch dazu.“

„Das war auch völlig korrekt, Roman“, versicherte Robert in seinem ruhigen Tonfall, mit dem er gewöhnlich auf seine Patienten einredete, und der im Allgemeinen seine Wirkung nicht verfehlte. „Wir können in die Stadt fahren und dir einen neue Jacke kaufen, Schatz“, versicherte er und lächelte Mara aufmunternd an

„Ich will keine neue Jacke“, entschied Mara wütend und zog die Lider zusammen. Es gab nicht den geringsten Grund, sich zu rechtfertigen, machte sie sich selbst Mut, strich sich jedoch nervös mit den Händen durch die Haare und schob die braunen Strähnen hinter ihre Ohren. „Diese Jacke gehört mir und ich muss mich wohl kaum dafür rechtfertigen, wenn ich sie wiederhaben will. In welcher der Kisten liegt sie, Roman?“

Robert holte vernehmlich Luft und trat einen Schritt auf Mara zu. „Du wirst sie dir nicht wiederholen, Liebes“, ermahnte er sie mit Bestimmtheit. „Wir waren uns einig, dass es gut für dich ist, die Vergangenheit hinter dir zu lassen, und dazu gehört auch diese Jacke.“

Mara fühlte sich zu Unrecht gemaßregelt und hätte am liebsten laut geschrien. Sie war unausgeschlafen, fühlte sich verletzlich und wollte keinen Vortrag darüber hören, dass Julian nicht mehr zu ihrem Leben gehörte! Sie wollte nur in ihre Jacke schlüpfen, die weiche Wolle um ihre Schultern spüren und anschließend mit Ruhe etwas essen. War denn das zu viel verlangt?

Ohne ein weiteres Wort, stürmte sie aus der Küche und knallte die Tür hinter sich zu. Dann rannte sie zum Kellerabgang und zog ruckartig die alte Holztür auf. Ihre zitternden Finger fanden den hohl klickenden Lichtschalter und kurz darauf erhellte eine nackte Glühbirne die ausgetretenen Treppenstufen, die in das kalte Kellergewölbe hinab führten. Wie von Furien gehetzt, stürmte Mara nach unten. Abgestandene Luft hüllte sie ein und sie zog fröstelnd die Schultern in die Höhe. Am Ende des Vorraums, in dem ausrangierte Möbel unter verstaubten Laken standen, erreichte sie einen langen Gang, der tiefer in den Keller führte. Mehrere Verschläge, die früher zum Überwintern der Feldfrüchte gedient hatten, kamen in Sicht. Auch hier gab es einen dieser vorsintflutlichen Lichtschalter, den sie klackend umlegte, bevor sie schwer atmend, im schwachen Lichtschein einer flackernden Glühbirnen, auf den hintersten Verschlag zu eilte. Die Tür quietschte kreischend, als Mara sie aufzog, dann fiel ihr Blick auf die Kartons, die nebeneinander aufgereiht vor der von Spinnenweben überzogenen Wand standen. Als hinge ihr Leben davon ab, riss sie den Deckel von der ersten Kiste, die ihr in die Quere kam und atmete erleichtert auf. Direkt obenauf erkannte sie das Norwegermuster, das sie vor so vielen Jahren in verschiedenen Grautönen Masche für Masche ausgezählt hatte.

Erleichtert, weil ihre Suche so einfach verlaufen war, atmete sie auf und zog die Jacke zufriedenen lächelnd aus dem Karton. Mit einem befreienden Stoßseufzer schlüpfte sie in die Ärmel und zog die wärmende Wolle über ihre Schultern. Nachdem sie den Karton wieder verschlossen hatte, schob sie ihn zwischen die anderen Kisten zurück und drehte sich herum.

Robert, dessen Schritte sie hinter sich vernommen hatte, stand wie festgewachsen in der Türöffnung. Sein Blick sprach Bände, aber er sagte nichts.

Mara hob die Schultern an und fuhr sich mit den Händen über die Oberarme. Trotz aller Dankbarkeit, die sie Robert sicherlich schuldete, würde sie ihn nicht über jede einzelne Handlung in ihrem Leben bestimmen lassen. „Wollen wir essen?“, fragte sie deshalb, als wäre zuvor nichts geschehen.

Robert wusste nicht, über wen er sich in diesem Augenblick mehr ärgerte: Über sich selbst, oder über Mara. Sein Verhalten war absolut unprofessionell. Es gab überhaupt keinen Grund, ihr wegen so einer Nichtigkeit wie dieser Strickjacke, ein schlechtes Gewissen machen zu wollen. Sie hatte so viel verkraften müssen, bevor er sie kennengelernt hatte, dass ihr Zusammenbruch vor fast zwei Jahren  kaum verwunderlich gewesen war. Dennoch hatte Mara an sich gearbeitet und war zurückgekehrt in ein normales Leben. Sogar ihm gegenüber hatte sie sich geöffnet, was er anfangs nicht für möglich gehalten hätte. Sie räumte Zimmer in diesem Haus, damit er einziehen konnte, löste sich mehr und mehr aus ihrer Vergangenheit, und alles was ihn auf die Palme brachte, war diese Jacke? Eifersüchtiger alter Narr, schimpfte er innerlich. Er sollte vernünftig und besonnen reagieren, doch es gelang ihm nicht.

„Du weißt, dass ich dein Handeln nicht gutheißen kann“, fuhr er Mara, sein schlechtes Gewissen beiseiteschiebend, an. Es glich schon einer Form der Besessenheit, wie wichtig es ihn war, all die Erinnerungen an Julian, die man in diesem Haus in fast jeder Ecke wie Spinnenweben in dieser Kellergruft aus einer längst vergessenen Zeit fand, endlich aus Maras Leben zu verbannen. Robert konnte die Eifersucht, die in ihm hochkochte, kaum mehr zügeln. „Eine neue Jacke hätte es auch getan. Du gefährdest mit deinem bockigen Verhalten nur den Erfolg deiner Therapie, darüber bist du dir hoffentlich im Klaren!“

Mara reckte das Kinn und sah ihn mit zornig blitzenden Augen entgegen. „Weil ich eine Jacke behalten will?“, fragte sie kalt und funkelte Robert ungehalten an.

„Weil wir beschlossen hatten, dass du die Vergangenheit endlich begräbst!“, warf Robert ihr unbeherrscht vor.

Zu spät bemerkte er, dass ihm die Worte unüberlegt über die Lippen gekommen waren und er schluckte betroffen. Aus Maras Gesicht war alle Farbe gewichen.

„Findest du nicht, dass ich schon genug begraben habe?“, schleuderte sie ihm bitter entgegen und ihre Stimme troff vor Sarkasmus.

Dann sackte sie in sich zusammen und kauerte auf den nackten Steinboden, wo sie blind ins Leere starrte.

„Was weißt du denn schon übers Begraben, außer dem, was du in deinen schlauen Büchern gelesen hast, Robert?“, flüsterte Mara heiser und sah vorwurfsvoll zu ihm auf. „Nichts“, fügte sie nach einem Augenblick des Schweigens erschöpft hinzu und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. „Du kannst es nicht einmal ansatzweise nachempfinden.“

Robert hätte sich ohrfeigen können. Er hatte es vermasselt, völlig überreagiert und diese zarte Frau, die ihn vom ersten Moment in den Bann gezogen hatte, völlig unnötig verletzt. „Es tut mir leid, Mara“, setzte er zu einer Entschuldigung an. „Es war wirklich eine unglückliche Wortwahl, ich hätte das nicht sagen dürfen.“

Mara sah aus müden Augen zu ihm auf. „Mir tut es auch leid, Robert. Ich wollte nicht mit dir streiten. Diese Jacke kann und will ich nicht einmotten, auch wenn ich beschlossen habe, ein neues Leben zu beginnen. Die Vergangenheit hinter mir zu lassen, ist Eines. Sie hingegen völlig auszublenden, ist schlichtweg unmöglich, weil Erinnerungen zum Leben gehören. Und wir sprechen hier über mein Leben.“

„Ich verstehe, was du sagen willst, Liebes.“

Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen, als er sie ansah und ihre Blicke miteinander verschmolzen. Braune Augen, in denen er Unsicherheit ob seines Verhaltens erkennen konnte, und blaue Augen, die wortlos um Verzeihung baten.

„Lass uns nach oben gehen und dann isst du erst einmal etwas. Morgen ist Samstag, da schläfst du dich richtig aus und ich unternehme etwas mit den Kindern. Danach sieht die Welt gleich anders aus.“

Mara kam auf die Füße und ließ sich von Robert in die Arme ziehen. Sie legte den Kopf an seine Brust und spürte seinen kräftigen Herzschlag. Sie wollte nicht mit ihm streiten, sehnte sich nach der Harmonie, die sonst zwischen ihnen herrschte. Seufzend schlang sie die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn.