Leseprobe – „Total verliebt im Ostseewind“
Kapitel 1 (Ella)
Ella sortierte ihre Einkäufe aus dem Einkaufswagen in die Transportkiste im Fußraum ihres Kleinbusses, ihr Großeinkauf war überfällig gewesen. Tagtäglich organisierte sie den Frühstücksservice in der Pension ihrer Freundin Malou und genoss den lockeren Umgang mit den Gästen, von denen einige regelmäßig wiederkamen. Man kannte sich.
Nachdem sie den Einkaufswagen zurückgeschoben hatte, kletterte Ella auf den Fahrersitz. Ein Blick zum Himmel genügte und sie zog die Nase kraus. Seit Tagen hing ein Tief über Usedom. Traute man dem unheilschwangeren Grollen, das innerhalb der aufgetürmten grauen Wolkenberge grummelte, würde bald der nächste Guss herunterkommen. Aber egal, sie saß im Trocknen und nahm Kurs auf Korswandt, wo Malous Ferienpension am Ufer des Wolgastsees auf sie wartete.
Ella presste die Lippen aufeinander. Keine drei Tage mehr und sie hätte Urlaub. Vier lange Wochen lagen vor ihr, in denen sie sich ausschließlich um sich selbst, aber vor allem um Eik kümmern wollte, in dessen Fahrradverleih im Herbst nicht mehr allzu viel los sein würde. Sollte er weiterhin so gute Fortschritte beim Laufen machen wie bisher, wären seine Tage im Rollstuhl gezählt. Voller Vorfreude begann Ellas Herz schneller zu schlagen.
Von der Landstraße bog sie in eine Sackgasse ein, die auf ein altes Backsteingebäude zuführte, das von herbstlich gefärbten Baumriesen umgeben war. Das Erdgeschoss und der erste Stock waren für Gäste reserviert. Unter dem Dach lag eine schnuckelige Einliegerwohnung, die Malou provisorisch für sich selbst hergerichtet und bis vor Kurzem bewohnt hatte. Nachdem sie jedoch ihre große Liebe Thore kennen- und lieben gelernt hatte, war sie Hals über Kopf zu ihm gezogen. Da Ella exakt zu diesem Zeitpunkt eine Kündigung wegen Eigenbedarfs für ihre Wohnung bekommen hatte, war es naheliegend gewesen, dass Malou ihr den Dachboden anbot. Für die Zubereitung des Frühstücksbuffets, um das sie sich täglich kümmerte, musste sie seither nur einige Stufen nach unten hüpfen, die alltägliche Anfahrt entfiel.
Routiniert rangierte Ella ihren Bus rückwärts zwischen die parkenden Autos auf den dafür vorgesehenen Parkstreifen und schaltete den Motor aus. Wohlwollend glitt ihr Blick über die vertrauten Backsteinwände des alten Hauses und blieb an einer in die Jahre gekommenen Holzbank unterhalb des Küchenfensters hängen. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, das hübsche Teil zu entsorgen. Da die morsche Sitzfläche unter dem Gewicht eines Erwachsenen jedoch einhundertpro zusammenbrechen würde, hatte sie eine mit bunten Herbstastern bepflanzte Tonschale auf die mit Moos bewachsenen Holzplanken gestellt. So war die Bank erhalten geblieben.
Dass die Haustür sperrangelweit offen stand, beunruhigte Ella nicht wirklich. Einbrecher verirrten sich selten ins Hinterland. Wahrscheinlich waren ihre Gäste wegen des schlechten Wetters früher zurückgekommen und hatten vergessen, die Tür zu schließen. Das ersparte ihr das lästige Suchen nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche.
Schwungvoll hüpfte Ella aus dem Bus und schob die Schiebetür auf, die geräuschvoll einrastete. Bis auf frische Brötchen, die am nächsten Morgen geliefert werden würden, war für das Frühstücksbuffet alles parat. Da sie in der Kiste nur die Lebensmittel gestaut hatte, die keiner Kühlung bedurften und direkt in die Speisekammer kamen, ergriff Ella die beiden Stofftaschen mit der Frischware und schob die langen Riemen über ihre Schulter.
Unbefangen trat sie aus der Parkreihe, da fiel ihr Blick auf einen roten Tesla und sie zog die Stirn in Falten. Wenn ihre Mutter bei diesem Wetter den Weg von der Strandpromenade in Zinnowitz ins Hinterland auf sich nahm, führte sie etwas im Schilde. Keine Frage.
Entschlossen, sich die gute Laune nicht verderben zu lassen, ging Ella auf die Haustür zu. Der Boden unter der Kiesschicht war vom Regen aufgeweicht. Bei der Vorstellung, wie ihre Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach auf hohen Absätzen auf das Haus zu getänzelt war und ihre Absätze in regelmäßigen Abständen im Erdreich versanken, huschte ein befriedigtes Lächeln über Ellas Lippen, schließlich beklagte ihre Mutter sich in regelmäßigen Abständen, dass Malou es nie für nötig befunden hatte, die Gehwege rund ums Haus pflastern oder bestenfalls teeren zu lassen. Ihrer Meinung nach grenzte es an ein Wunder, dass sich noch keiner der Gäste die Knochen gebrochen hatte. Dass sämtliche Besucher dieses Hauses erfahrungsgemäß auf flachen Sohlen anreisten, um die herrliche Natur der Insel mit dem Fahrrad oder beim Wandern zu erkunden, blendete Hanne Köster stoisch aus.
Mit einem Knoten im Magen betrat Ella den Eingangsbereich, in dem der schmiedeeiserne Kaminofen böllerte. An der lang gezogenen Garderobe hingen Jacken, die auf die Anwesenheit ihrer Feriengäste hinwiesen. Die Tür zur Küche, neben der die Treppe in den ersten Stock zu den Gästezimmern hinaufführte, stand einladend offen.
Ella hielt inne und lauschte. Unbewusst rechnete sie mit ungeduldig auf und ab gehenden Schritten, doch alles blieb still. Demnach erwartete ihre Mutter sie im Sitzen. In der komfortableren Küche im Erdgeschoss natürlich. Die kleine Behelfsküche unter dem Dach in Ellas Wohnung war ihr zu popelig. O-Ton Mama.
Danke Mama.
Angriffslustig reckte Ella ihr Kinn und betrat die funktional, aber dennoch gemütlich eingerichtete Küche. Durch die von hellroten Stores flankierten französischen Fenstertüren, die zur kleineren Terrasse des Hauses führten, fiel mattes Herbstlicht herein. Weiße Hänge- und Unterschränke bildeten einen hübschen Kontrast zu den Arbeitsflächen aus geöltem Buchenholz. Vom lang gezogenen Esstisch hatte man einen schönen Blick hinaus in den Garten. Vier Stühle mit hohen Lehnen und passenden roten Sitzkissen vermittelten eine behagliche Atmosphäre. Auf einem der Stühle hatte Ellas Mutter Platz genommen. Ein Bein über das andere geschlagen, wippte ihr Fuß mitsamt dem hohen schwarzen Stiletto unruhig auf und nieder.
Mit Argusaugen musterte Hanne Köster das Erscheinungsbild ihrer Tochter. Abschätzig streifte ihr Blick deren Kleidung und ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Mit flauschigen Norwegerpullis, Jeans und Wanderstiefeln hatte sie bekanntlich wenig am Hut. Dass ihre Tochter zudem die wallende Mähne offen trug, statt sie in einer gepflegten Hochfrisur gebändigt zu halten, missfiel ihr deutlich.
Sie selbst trug ein zartrosa Business-Kostüm. Der kurz geschnittene Blazer schmeichelte ihrer zarten Figur. Um die Schultern hatte sie ein teuer aussehendes wärmendes Tuch geschlungen. Die rotbraunen Haare, die Ella von ihr geerbt hatte, trug sie zu einem edlen Knoten im Nacken geschlungen.
»Ella!«, grüßte sie geziert. »Wie schön, dich zu sehen.«
»Mama!«, antwortete Ella artig. »Was verschafft mir die Ehre?«
Ihre Eltern leiteten ein traditionsreiches Hotel in Zinnowitz, in erster Reihe an der Promenade gelegen. Zuzeiten der Bäderarchitektur erbaut, war das Haus mit seinen Erkern und Balkonen ein wahres Prunkstück und wunderschön anzusehen. Sämtliche Zimmer waren mit luxuriösen Doppelbetten und großzügigen Sitzmöbeln für Gäste der oberen Einkommensklassen ausgestattet. Stilvolle marmorverkleidete Bäder luden zum Duschen oder Baden im Whirlpool ein. Im vornehmen Speisesaal mit bodentiefen Fenstern hingen strahlende Lüster erhaben von der Decke herab und verteilten ihr helles Licht im stilvoll eingerichteten Ambiente. Dunkle Büffets prangten vor den Wänden, die dazu passenden Tische waren mit edlen weißen Dammasttischdecken bedeckt.
Auf Ella wirkte das Interieur des Hauses eher steif. Nicht minder steif wie die dort anreisenden Gäste, die zuweilen dem bemitleidenswerten Personal gegenüber extrem überheblich auftraten. Allein bei dem Gedanken an die Katzbuckelei, die man dort tagtäglich von ihr erwarten würde, sollte sie sich jemals bereit erklären, dort zu arbeiten, rieselte ihr ein Schauer den Rücken herunter. An die düsteren steifen Uniformen wollte sie nicht einmal denken. Für Ella hatte Urlaub mit Entspannen und Spaß haben zu tun. Das ganze Etepetete widerstrebte ihr und das ungeschriebene Gesetz, dass die Gäste sich zu den jeweiligen Mahlzeiten extra umzuziehen hatten, ging ihr gewaltig gegen den Strich.
Hanne Köster hatte die Begutachtung ihrer Tochter mittlerweile abgeschlossen und sah verdrießlich zu Ella auf. »Wie lange willst du deine Zeit noch mit Zimmerdiensten verplempern und mit gestressten Großstädtern durch die Wälder tingeln?«, rügte sie sie naserümpfend.
Nicht schon wieder!, schnaubte Ella innerlich und steuerte mit ihren Tragetaschen zielstrebig an der Kücheninsel vorbei auf den doppeltürigen Kühlschrank an der Stirnseite der Küche zu, der Vorräte für viele hungrige Mäuler fasste.
»Ich komme eben vom Großeinkauf«, erklärte Ella überflüssigerweise und sortierte routiniert die Nahrungsmittel in den Kühlschrank. Die geleerten Stofftaschen warf sie lässig in die angrenzende Speisekammer. »Ich hole schnell die restlichen Sachen aus dem Auto, ehe es erneut zu regnen beginnt«, informierte sie ihre Mutter und registrierte deren hörbares Luftholen, als sie wenig damenhaft aus dem Haus stürmte.
Ja, sie hatte ihren Bachelor im Hotelmanagement ihren Eltern zuliebe gemacht, um anschließend, wie befürchtet festzustellen, dass der förmliche distanzierte Umgang im Hotelbetrieb sie deprimierte. Hier in der Ferienpension durfte sie sie selbst sein. Hier hatte sie Luft zum Atmen.
Mit ausholenden Schritten stürmte Ella in die Küche. Schwungvoll hob sie die Einkaufskiste auf die Ablage und stellte sie in die Lücke zwischen Smoothiemaker, Eierkocher und hochmoderner Kaffeemaschine ab.
»Könntest du mir freundlicherweise einen Moment deiner Aufmerksamkeit schenken?« Tadel schwang in der Stimme ihrer Mutter mit. Um Haltung bemüht, erhob Hanne Köster sich. »Wir werden nicht jünger und du hast deine Ausbildung mit Bravour bestanden. Also nimm endlich Vernunft an und komm in den elterlichen Betrieb zurück. Du wirst das Hotel immerhin eines Tages übernehmen und im bevorstehenden Winter wäre der Zeitpunkt ideal, dich dort einzuarbeiten.«
Kurz verdrehte Ella die Augen und holte tief Luft. Ihre körperliche Anspannung wuchs mit jedem Atemzug. Hörte ihre Mutter ihr eigentlich jemals zu? War es total an ihr vorbeigegangen, dass Ella genau das gefunden hatte, was ihr Spaß machte? Im Lauf der Zeit hatte sie sich zu einem wahren Allround-Talent gemausert. Für ihre Arbeit benötigte sie kein pompöses Büro, ihr Laptop und ein Drucker genügten. Sie kümmerte sie sich nicht nur um die Belange dieses Hauses, sondern fungierte als Schnittstelle zwischen anderen Wohnungs- und Hausbesitzern und deren Feriengästen, ordnete die Zimmer- oder Hausreinigung an oder rief Handwerker zur Hilfe, wenn Reparaturen anstanden. Fiel das Reinigungspersonal aus welchen Gründen auch immer aus, sprang sie wie selbstverständlich selbst mit ein und rauschte mit ihrem dreirädrigen Vespacar-Kleintransporter in knalligem Gelb an. Ihr Logo auf dem Kastenaufbau des Fahrzeugs kannte in diesem Teil der Insel mittlerweile jeder. Die Fee, die einen glitzernden Zauberstab in der Luft schwang und in einer Sprechblase für »Ellas Hauszauber« warb, stand für Zuverlässigkeit. Zusätzlich bot sie Wanderungen und Fahrradtouren in die unberührte Natur Usedoms an und begeisterte immer mehr stressgeplagte Touristen für das Waldbaden, das ihr sehr am Herzen lag.
»In den Frisierstuben bekommt man derzeit problemlos einen Termin. Du könntest dir die Haare glätten und bestenfalls kürzen lassen«, fuhr ihre Mutter ungebremst fort und Ella war kurz davor zu platzen. Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Kannst oder willst du mich nicht verstehen?« Was ihr Aussehen anging, hatte Ella mit der Fee auf ihrem Wagen nämlich wenig gemeinsam. Viel eher glich sie einer Naturgewalt. Ihr krauses Haar leuchtete rostbraun wie das Herbstlaub in der Sonne. Meistens hielt sie es mit einem bunten Tuch aus der Stirn oder trug es zu einem dicken Zopf geflochten. Obwohl sie zierlich gebaut war, strahlte sie Urtümlichkeit und Kraft aus.
»Was gibt es da zu verstehen, Ella. Du kannst unmöglich bis in alle Ewigkeiten durch die Landschaft marschieren und gestressten Großstädtern die Mär vom Waldbaden erzählen. Dass du davon leben kannst, grenzt sowieso an ein Wunder.«
»Darauf werde ich dir nicht mehr antworten!«, beendete Ella die Diskussion, indem sie die Einkaufskiste von der Ablage hievte und mit dem Ellbogen die Tür zur Speisekammer aufstieß. »Grüß Papa schön von mir.«
»Deinen Starrsinn hast du jedenfalls von ihm!«, bemerkte ihre Mutter konsterniert, bevor sie davonstob.
Das Klacken ihrer Absätze entfernte sich und verstummte auf dem weichen Boden vor dem Haus gänzlich. Kurz darauf drang das Geräusch vom Zuknallen einer Wagentür in die Speisekammer gefolgt von aufspritzendem Kies, den der Tesla beim Abfahren verursachte.
Dir auch noch einen schönen Tag, Mama. Ella schielte zur Decke, erleichtert, dass ein Besuch ihrer Mutter sich aller Voraussicht nach nicht so schnell wiederholen würde.