Maike Hempel

Leseprobe – „Schwiegermutter zu verschenken“

Kapitel 1

Lilly biss sich auf die Unterlippe und rückte den Stuhl zurück. Ihre Laune war auf dem Nullpunkt angelangt. Mit grimmig verzogenem Mund ging sie auf die Balkontür zu und trat, ohne ihre Jacke überzuziehen, hinaus.

Kein Wölkchen trübte den strahlend blauen Himmel, und sie legte schützend die Hand über die Augen, um sich vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Der Dauerregen war weitergezogen. Der dichte Nebel, der die Umgebung in den letzten Tagen wie eine Geisterlandschaft hatte wirken lassen, war gewichen.

Sie sah zum See hinunter, der fast die gesamte Talsohle einnahm. Die Aussicht hätte in einem Werbekatalog für Winterurlaube kaum schöner aussehen können. Am gegenüberliegenden Ufer spiegelten sich tief verschneite Tannen und die felsigen Gipfel der Berge, die das Tal wie eine schützende Mauer umgaben, im klaren Uferwasser. An den Berghängen drehten die Skilifte behäbig ihre Runden. Auf den Pisten, die sich durch eingeschneite Wälder bergab schlängelten, tummelten sich Skifahrer, zu denen Lilly heute nicht zählte.

Was ist denn auf einmal los? Lilly zog die Stirn kraus. Sie entwickelte neuerdings ein geradezu untrügliches Talent, sich permanent in die Nesseln zu setzen. Dass die Direktorin sie dermaßen zur Schnecke gemacht hatte, lag ihr schwer auf der Seele. Sie war noch nie ein Duckmäuser gewesen, und es fiel ihr von Tag zu Tag schwerer, sich hier unterzuordnen und den Mund zu halten.

Dabei hatte in dem Prospekt, das sie damals mit dem Antwortschreiben auf ihre Bewerbung bekam, alles so idyllisch ausgesehen. Es war ihr wie ein Traum erschienen, in diesem altehrwürdigen Schloss, das sich inmitten eines Parks an einen Berghang schmiegte, unterrichten zu dürfen. Hinzu kam die Nähe eines verwunschenen Sees, den man über einen malerischen, von Bäumen überschatteten Pfad, der in steilen Serpentinen zu einem kleinen Strand hinab führte, erreichte.

Schade nur, dass sie zunehmend in der Realität ankam und sich immer öfter bei dem Bedürfnis ertappte, diesem Internat den Rücken zuzukehren. Was nicht zuletzt an den eisernen Regeln lag, die die Schüler hier zu befolgen hatten, und die Lilly für mehr als vorsintflutlich hielt. Und jetzt noch diese Abmahnung, die ihr nicht nur völlig übertrieben, sondern schlichtweg unangemessen erschien. Zwei weitere davon und sie dürfte diese heiligen Hallen verlassen …

Wahrscheinlich bin ich selbst daran schuld!, grummelte Lilly. Hätte sie früher nicht ständig ihre Nase in irgendwelche Mädchenromane gesteckt, in denen das Leben in einem Internat als lustig oder gar anheimelnd beschrieben wurde, wäre sie vielleicht nie auf die Idee gekommen, sich an dieser Lehranstalt zu bewerben, in der so vieles ganz anders lief, als sie es sich vorgestellt hatte.

Aber gut. Tatsache war und blieb, dass sie vor zwei Jahren egal wohin gegangen wäre, um Köln schnellstmöglich hinter sich zu lassen.

Lilly rubbelte sich über die Oberarme. Nachdenklich lief sie ins Zimmer zurück und setzte sich an den Schreibtisch, wo sie sich zerstreut mit den Fingern durch die zerzauste blonde Mähne fuhr, die sie sonntags nicht in einer Hochfrisur bändigte. Sie setzte die Brille auf, die griffbereit neben dem Laptop lag und beschloss, Sophie eine Mail zu schreiben.

Lilly erinnerte sich lebhaft daran, wie sie Sophie kennengelernt hatte. Sie war auf der Suche nach einem WG-Zimmer in Reichweite der Uni gewesen. Sophie hatte ihr die Tür geöffnet, als sie vorbeikam, um sich vorzustellen. Sofort sprang zwischen ihnen ein Funke über. Lilly, der ihr Studium noch bevorstand, erfuhr, dass die fünf Jahre ältere Sophie bereits für ihr erstes juristisches Staatsexamen ackerte. Zusammen mit Nina, die eine Erzieherinnenausbildung absolvierte und Alfred, dem frischgebackenen Friseur, der von einem eigenen Salon träumte, hatten sie eine tolle Zeit erlebt. Seitdem fungierte ihre beste Freundin wie ein tagebuchähnlicher Kummerkasten.Der Vorteil lag klar auf der Hand: Sophie antwortete prompt. Das Tagebuch nicht.

Von: Lilly Sandner
An: Sophie Dobrinth

Betreff: Erste Abmahnung

Liebe Sophie,

obwohl ich hier anfangs so glücklich war, kommen mir in letzter Zeit Zweifel, ob dieses Internat das Richtige für mich ist. Mir ist klar, dass Schüler Regeln brauchen. Aber es sind Kinder, verdammt noch mal! Da muss doch ein wenig Spaß erlaubt sein.

Damit du verstehst, worüber ich mich dermaßen aufrege, hole ich etwas weiter aus:

Florian ist elf Jahre alt und schüchtern. Also habe ich nicht schlecht gestaunt, als ausgerechnet er in meiner Französischstunde eine Spitzmaus durchs Klassenzimmer flitzen ließ. Der Himmel weiß, wie es ihm gelungen ist, sie zu dieser Jahreszeit zu fangen. Wahrscheinich erscheint mir, dass sie im Keller unterwegs war. Draußen ist bei diesen Temperaturen Nahrung eher Mangelware.

Da Lausbubenstreiche in diesem Haus nicht unbedingt zur Tagesordnung gehören, weil sie streng geahndet werden, dem Jungen der Schalk jedoch ins Gesicht geschrieben stand, kam ich nicht umhin, mich auf den Spaß einzulassen. Panik vortäuschend, bin ich auf den nächstbesten Stuhl gestiegen, wo ich mir zur großen Freude der Kinder die Haare gerauft und einen Schreikrampf simuliert habe.

Oh, ich weiß, das war furchtbar undiszipliniert!

Und, ja! Man hat mir oft genug vorgebetet, dass ich zu nachsichtig bin.

Dämlich auch, dass mir der Fehler unterlief, die Klassenpetze in die Küche zu schicken, wo sie ein Nudelsieb stibitzen sollte, mit dem wir das possierliche Tierchen einfangen wollten. Besagte hat ihrem Namen alle Ehre gemacht und der stets missgelaunten Köchin gesteckt, was sich in meiner Klasse abspielt. Nur: Darauf dass mich nun ausgerechnet die „Herdfraktion“ bei der Direktorin anschwärzen würde, wäre ich im Leben nicht gekommen! Aber dazu später mehr.

In der Nachmittagsbetreuung habe ich meiner Klasse eine ausführliche Recherche über Spitzmäuse aufgebrummt, und Florian hat – genau wie ich – ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt, als er erfuhr, dass Spitzmäuse nicht zu den Nagetieren, sondern zu den Insektenfressern gehören, genau wie der Igel und der Maulwurf. Insofern war meine Vermutung, dass sich das Tierchen in Reichweite des Kellers aufgehalten hat, gar nicht so abwegig. Spinnen und Asseln tummeln sich dort zu Hauf.

Da selbst ich nicht wusste, dass die Bisse der kleinen Viecher auch für Menschen ausgesprochen schmerzhaft ausfallen, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass wir etwas aus diesem Streich gelernt haben.

Nachdem die Kinder nun zwei Stunden lang mitgemacht hatten, war ich der Meinung, dass das Strafe genug ist. Leider sah das die gestrenge Direktorin gänzlich anders …

Ja, ich habe es gewagt, ihr meinen Standpunkt zu verdeutlichen, was sie keinesfalls witzig fand. Ihre vor Kälte klirrende Stimme hallte in meinen Ohren, während sie mir die Statuten ihres Hauses herunterbetete, in denen es vor Regeln nur so wimmelte.

In Anbetracht der mir fehlenden Erfahrung und meiner Jugend (oh ja, ich bin mit neunundzwanzig mit Abstand die jüngste Lehrerin in diesem Schloss überbordender Disziplin) wäre sie unter Umständen bereit gewesen, mir den Vorfall durchgehen zu lassen. Da mir offensichtlich jegliche Einsicht fehle – was meine Widerworte ihr überdeutlich bestätigten – sähe sie sich gezwungen, mir eine schriftliche Abmahnung zu erteilen.

„Drei davon und wir verlieren eine sehr engagierte Kraft“, hat sie mir – das Kinn eindringlich senkend – erklärt und mich mit einem warnenden Blick bedacht. „Denken Sie nicht, dass Sie unersetzlich sind, Frau Sandner!“

Ach, Sophie, es ist frustrierend. So frustrierend, dass ich aus dem Fenster schaue und mir bei dieser zauberhaft eingeschneiten Märchenwelt genervt die Frage stelle, ob Berge nicht generell überbewertet werden. Strenggenommen stehen doch sie nur im Weg herum und behindern die freie Sicht.

Ich gäbe etwas darum, mit dir und Nina um die Häuser zu ziehen und Spaß zu haben. Wir könnten beispielsweise bei Alfred vorbeischauen und uns die Haare verschönern lassen, das hätte echt was. In mir brodelt das dringende Bedürfnis, hier die Biege zu machen. Schweiz hin, wie Berge her.

Wie geht es dir? Ich warte gespannt auf Neuigkeiten.

Lieben Gruß

Lilly

***

Der folgende Montag schleppte sich dahin. Lilly wurde das Gefühl nicht los, unter ständiger Beobachtung zu stehen. Bis ins Lehrerzimmer hatte sich ihr Fauxpas schon herumgesprochen. Die anderen Lehrer musterten sie mit hoch gezogenen Augenbrauen oder ignorierten sie gänzlich. Dass ihr ausgerechnet Kollege Thomas – ein schmieriger Typ in den Vierzigern, dem Lilly sonst kaum Sympathie entgegenbrachte – tröstend den Arm um die Schulter legte und sie darin bestärkte, es nicht so ernst nehmen, baute sie nicht sonderlich auf. Ihr Selbstbewusstsein war durch die rüde Zurechtweisung der Direktorin angekratzt.

Als sie zur letzten Stunde in die Klasse zum Französischunterricht kam, kehrte dort betretene Stille ein. Die Kinder hatten längst Wind davon bekommen, dass der bedeutungslose Streich sie ernsthaft in Schwierigkeiten gebracht hatte.

Zögerlich trat Florian vor und entschuldigte sich radebrechend wegen seines Lausbubenstreichs, was Lilly zur Weißglut brachte, schließlich hatte der Junge nicht die Schule abgefackelt. Dass dann noch Katrin, die Klassenpetze, mit hochroten Wangen hoch und heilig versprach, nie mehr jemanden anzuschwärzen, trieb Lilly endgültig die Tränen in die Augen.

„Ist schon gut“, lenkte sie, in dem Versuch heiter zu wirken ein, und schlug das Grammatikbuch auf, um die unregelmäßigen Verben deklinieren zu lassen, genau wie es im Lehrplan vorgesehen war. Was hätte sie auch tun sollen, ohne sich mit einer eventuell zu lässigen Antwort am Ende eine weitere Verwarnung einzuheimsen?

Beim Mittagessen kam sie ihrer Aufsichtspflicht nach, rügte zu laute Unterhaltungen und ermahnte zwei Mädchen, ihre Haare in Ordnung zu bringen. Einen älteren Schüler forderte sie auf, seine Uniformhose in die Wäscherei zu geben, die Flecken aufwies. Als die Schulglocke das Ende der Mittagspause einläutete, atmete Lilly erleichtert auf.

Da man sie für die Nachmittagsbetreuung nicht eingeteilt hatte, beschloss sie, spazieren zu gehen, um den Kopf frei zu bekommen. Eingemummelt in ihre Daunenjacke und den gefütterten Stiefeln an den Füßen, stob sie in Richtung See davon.

Der frischgefallene Schnee knirschte unter den Sohlen ihrer Stiefel. Ein Geräusch, das Lilly unter normalen Umständen beruhigt hätte. Heute glaubte sie Gewichte hinter sich herzuschleppen, die sie am Vorankommen hinderten. So deprimiert und hoffnungslos hatte sie sich lange nicht gefühlt.

Möglicherweise ist das Internatsleben nichts für mich, zog sie in Erwägung. Zumindest nicht in diesem, mit seinen antiquierten Regeln und in dieser Abgeschiedenheit.

Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr vermisste sie ihre Freunde, die sie im Zuge ihrer überstürzten Flucht aus Köln zurückgelassen hatte. Daran, wann sie zuletzt ausgegangen war, erinnerte sie sich schon nicht mehr.

Schwer atmend erreichte sie den abschüssigen Pfad, der hinunter zum See führte. Hier war seit Ewigkeiten niemand gewesen. Keine einzige Fußspur führte durch den Schnee.

Wozu lebt man in dieser Traumlandschaft, wenn man vor lauter Pflichten und Disziplin nicht dazu kommt, all das zu genießen?, fragte Lilly sich und rutschte mehr als dass sie ging zum Strand hinunter, dessen flaches Uferwasser von einer dünnen, schneebedeckten Eisschicht überzogen wurde. Die Aussicht auf die eingeschneiten Berge, deren felsige Gipfel unter den Schleiern einer Wolkenbank verschwanden, vermittelte ihr mit einem Mal das Gefühl, eingesperrt und vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein.

Was, wenn die unerbittliche Direktorin sie jetzt erst recht auf dem Kieker hatte und bald schon die zweite Abmahnung folgen würde?

Lilly versteifte den Rücken.

Es gäbe ja noch die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und zu kündigen.

Super! Und dann?

Das Bild einer eigenen Wohnung schlich sich ungebeten vor ihr inneres Auge, und Lilly presste sehnsüchtig die Lippen aufeinander. Eine kleine Wohnküche … Ein Wohn- und ein Schlafzimmer … Ein Balkon … Und all das bitte in einer Stadt, in der das Leben tobt …

Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. Sie malte sich aus wie es wäre, mit Sophie am Rheinufer spazieren zu gehen. Allein bei der Vorstellung, aus dem Haus zu treten und ein Café in Reichweite vorzufinden, schlug Lillys Herz ein paar Takte schneller. Auf dem Bürgersteig würde sie ganz normale Menschen treffen, und an einer ganz normalen Schule unterrichten. Morgens kommen und nach dem Unterricht nach Hause gehen. Die Schuluniform, in die man hier selbst die Lehrkräfte zwängte, wäre Schnee von gestern. Außerdem müsste sie sich nicht länger verbiegen …

Lilly blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an. Die Sehnsucht nach einem normalen Leben schnürte ihr die Luft ab.

Ja, sie würde sich nach einer anderen Stelle umsehen. Spätestens zum kommenden Schuljahr …

Von diesem Entschluss beseelt, machte sie sich auf den Rückweg und hatte es auf einmal schrecklich eilig.

Oben angekommen, warf sie ihre Jacke auf das kleine Sofa, das die winzige Essecke vom Rest ihres Einzimmerappartements abtrennte und schaltete den Laptop ein. Wie erwartet, hatte Sophie schon geantwortet.


Von: Sophie Dobrinth
An: Lilly Sandner

Betreff: Sie ist zurück!!!

Hallo Lilly,

so langsam glaube ich, dass du dich mit diesem Internat schlichtweg vertan hast, auch wenn du vor zwei Jahren so weit wie möglich weg wolltest, was ich nachvollziehen kann. Es war für dich bestimmt nicht witzig herauszufinden, dass der Mann, den du liebst und mit dem du von einer gemeinsamen Zukunft träumst, längst verheiratet war. Allerdings bist du vielleicht zu weit gelaufen. Oder schlichtweg in die falsche Richtung.

Lass dir nichts einreden! Wenn es jemanden gibt, der für den Beruf der Lehrerin wie geschaffen ist, bist du es. Nur – diese Schule und du – beziehungsweise du und diese Direktorin, das wird in diesem Leben nichts mehr, das sehe ich nicht. Wenn du meine Meinung hören willst, lass die Berge hinter dir und komm ins Flachland zurück. „Home is, where the Dome is”, du kennst meine Devise. Denk‘ mal drüber nach.

(Dein verlogener Dirk ist mit Frau und Kind umgezogen, sodass du ihm hier nicht über den Weg laufen wirst, was dich beruhigen dürfte)

Meine Schwiegermutter ist zu unser aller Freude zurück. Hätte ich drei Wünsche bei einer Zauberfee frei, wäre einer davon der, dass DoubleD zukünftig den gesamten Winter in ihrem Haus in der Toskana verbringt, statt nach zwei Monaten zurückzukehren und unser Leben aufzumischen.

Unschwer zu erraten, dass wir vergangenen Sonntag zum Mittagessen antraben durften. Es erstaunt mich jedes Mal aufs Neue. Diese Frau dreht ihre Tränendrüsen auf und zu wie unsereins einen Wasserhahn. Als sie ihren Sohn empfing (Wasserhahn auf), glitzerten Freudentränen in ihren Augen, die bei Anblick der Mädchen (Wasserhahn zu), schon skeptischer durch Brillengläser schauten.

Wie üblich wurde unsere Älteste an Stelle einer Begrüßung von ihrer Großmutter in die Wange gezwickt, was Olivia mit einem genervten Schnauben quittierte. Sie wird bald elf und lässt sich nicht länger wie ein Kleinkind behandeln. Unterdessen ist Isabelle flink wie ein Wiesel stiften gegangen und hat sich hinter Adrian in Deckung gebracht, was zur Folge hatte, dass ich meinem Schwiegermonster allein gegenüberstand.

„Sophie!“, bemerkte sie spitz, kaum dass ich den Mantel abgelegt hatte, derweil mich ihr Röntgenblick von oben bis unten scannte.

Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich kenne meine Schwiegermutter lange genug und ahnte förmlich, dass sie still und heimlich an einem verbalen Giftpfeil schnitzt, der jeden Moment in meine Richtung fliegen würde.

„Was für ein hübsches Kleid!“, flötete DoubleD Begeisterung heischend und zog mich an ihre mütterliche Brust. „Findest du nicht, dass es um die Hüfte ein wenig spannt?“, flüsterte sie mir dabei ins Ohr.

Oh, ich hätte mich schwarzärgern können. Warum fallen mir die schlagfertigen Antworten erst Stunden später ein, obwohl ich eigentlich nicht auf den Mund gefallen bin?

Natürlich hat sie es sich auch dieses Mal nicht nehmen lassen, ihre Lobeshymne auf meine Vorgängerin anzustimmen, was lächerlich ist. Helen lebt seit Jahren in München und hegt zu meinem Mann keinerlei Kontakte mehr. Mich ärgern diese Sticheleien, weil ich mich stets wie das fünfte Rad am Wagen fühle. DoubleD bejubelt Helens steile Karriere, als hätte ich nie studiert und nichts begriffen. Klar, dass sie erneut ihr Bedauern zum Ausdruck brachte, dass ihr Sohn diese begnadete Anwältin hat ziehen lassen, anstatt sie in seine Kanzlei zu berufen. Kotz!

Kaum hatten wir uns um den Esstisch versammelt, beklagte sie, Salz und Pfeffer vergessen zu haben.

Selbstverständlich sprang mein Mann unverzüglich auf, um beides aus der Küche zu holen. Und was soll ich dir sagen? Kaum war Adrian im Flur verschwunden, nahm DoubleD schon meine Wenigkeit aufs Korn.

„Meinst du nicht, dass es in deinem Alter an der Zeit wäre, dir die Haare abzuschneiden?“, meinte sie in dem für sie typisch kritischen Tonfall. „Das mutet mit Mitte dreißig viel zu jugendlich an. Du solltest als Anwältin etwas seriöser daherkommen, finde ich.“

Vielleicht bin ich überempfindlich, aber mir entging nicht, dass sie das Wort Anwältin regelrecht ausspuckte. Schließlich lässt sie sich keine Gelegenheit entgehen mir unter die Nase zu reiben, dass ich wegen der Kinder nur halbtags arbeite. Es lässt dieser Frau einfach keine Ruhe. Zumal das der tollen Helen niemals passiert wäre …

Jedenfalls protestierte Olivia lautstark gegen den Vorschlag ihrer Großmutter, und Isabelle fragte ihren Vater, der aus der Küche zurückkehrte, wieso Oma zu bestimmen hätte, wann ich mir die Haare abschneide.

Adrian verstand natürlich kein Wort, derweil seine Mutter sich damit herausredete, doch nur einen Vorschlag gemacht zu haben, und sie verstehe die ganze Aufregung nicht. Woraufhin mein Mann arglos anmerkte, kurze Haare würden mir bestimmt auch gut stehen, weswegen ich ihn liebend gern erwürgt hätte.

„Ich denke, ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, wie ich meine Haare trage!“, habe ich Dorothea mit aller Deutlichkeit wissen lassen. Sofort ereilte mich Adrians warnender Blick, bloß kein Fass aufzumachen.

Sie fängt an und ich kassiere die bösen Blicke? Das kann doch bitte nicht wahr sein!

Ach, Lilly! Es tut mir so leid, dass du das alles abbekommst. Bestenfalls kannst du über mich und meine grauenhafte Schwiegermutter nachdenken, statt dir den Kopf über dieses Internat zu zerbrechen. Nicht unbedingt die prickelndste Alternative, ich weiß …

Du fehlst mir. Schon das spricht gegen dieses Land hinter den Bergen. Es ist schlichtweg zu weit entfernt. Komm bitte, bitte nach Köln zurück. Home is, where the Dome is, da führt nun mal kein Weg dran vorbei.

Dicken Kuss

Sophie

Mit in Falten gelegter Stirn starrte Lilly auf den Bildschirm.

Dorothea Dobrinth (deshalb die Abkürzung DoubleD) war der Albtraum einer Schwiegermutter, wie Lilly am eignen Leib hatte erfahren dürfen. Sie war ihr an Sophies 33-sten Geburtstag über den Weg gelaufen und beneidete ihre Freundin nicht. DD tat sich mit freundlichen Worten wahrlich schwer, und Lilly wurde den Verdacht nicht los, dass Adrians Mutter eifersüchtig auf das Glück war, das ihre Freundin und deren Mann verband.

Adrian, groß und blendend aussehend, zog automatisch die Aufmerksamkeit auf sich, wenn er einen Raum betrat. Sophie musste sich mit ihren mandelförmigen Augen und den langen braunen Haaren ebenfalls nicht verstecken. Es grenzte geradezu an eine Unverschämtheit, ihr vorzuschlagen, diese Haarpracht abzuschneiden, um die selbst Schneewittchen ihre Freundin beneidet hätte.

Dass DoubleD Adrians Verflossene als die Traumfrau schlechthin präsentierte, war an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Was wollte sie damit erreichen? So patent konnte diese Helen ja nicht sein, wenn sie angeblich seit über zehn Jahren einem Mann hinterhertrauerte, der glücklich verheiratet war und mit der Liebe seines Lebens zwei Kinder hatte.

Aber gut, was verheiratete Männer anging lehnte Lilly sich weit aus dem Fenster, das war ihr bewusst. Immerhin hatte Dirk sie fast zwei Jahre lang den Traum der großen Liebe träumen lassen, bevor sich herausstellte, dass er den Gang zum Traualtar längst hinter sich hatte. Das war verletzend gewesen, keine Frage. Hinterhergetrauert hatte sie ihm dennoch nicht. Für einen Mann, der in der Lage war, dermaßen dreist zu lügen, gab es in ihrem Leben keinen Platz.

Bedauerlicherweise seitdem auch keinen für keinen anderen Mann, dachte Lilly verbittert, denn auf eine weitere Enttäuschung war sie keinesfalls erpicht.

„Home is, where the Dome is“, hallten Sophies drängende Worte in ihr nach und sie lächelte versonnen vor sich hin. Die Domplatte, die Hohenzollernbrücke, der Heumarkt …

Leise summte sie das Lied einer Kölner Band vor sich hin: „Dat es Heimat, dat es Heimat, dat es Kölle, rut und wies …“, und traf ihre Entscheidung: Zum Schuljahresende wäre ihre Kündigung fällig. Es war an der Zeit, neue Wege zu gehen.

Von: Lilly Sandner
An: Sophie Dobrinth

Betreff: Achtung, ich komme!!!

Hallo Sophie,

na, da hast du mir ja einen schönen Floh ins Ohr gesetzt, aber du hast Recht. Das hier ist auf Dauer nichts für mich. Somit werde ich die zweite oder dritte Abmahnung nicht erst abwarten, sondern plane, mich hier heimlich, still und leise vom Acker zu machen. Spätestens zum kommenden Sommer. So kann ich im nächsten Schuljahr voll durchstarten.

Wenn du etwas von einer bezahlbaren Wohnung in Köln (bestenfalls mit Blick auf den Dom, grins), hörst, lass es mich wissen. Und DD kannst du wissen lassen, dass die moralische Unterstützung anrückt. Ich habe sowieso nie verstanden, wieso dir ausgerechnet bei deiner Schwiegermutter nie eine schlagfertige Antwort einfällt, wo du dich sonst so gewandt zur Wehr zu setzen verstehst. Daran müssen wir arbeiten.

Oh, es wird herrlich, Sophie!

Ein schallendes „Kölle Alaaf!“

Lilly

Kapitel 2

Rasant steuerte Adrian den Wagen über die Kölner Stadtautobahn. Sie hatten getrödelt und waren spät dran.

Im Nachhinein ärgerte er sich, dem Drängen seiner Mutter nachgegeben zu haben, denn ein entspannter Sonntag wäre ihm gelegen gekommen. Die endlosen Verhandlungen, die er in der letzten Woche im Zuge einer Firmenübernahme begleitet hatte, waren anstrengend und nervenaufreibend gewesen. Glücklicherweise hatten sich die Beteiligten in letzter Sekunde auf ein für alle Seiten zufriedenstellendes Ergebnis geeinigt.

Adrians Finger schlossen sich fester um das Lenkrad. Er hoffte seine Mutter in gnädiger Stimmung vorzufinden. Die ständigen Sticheleien, die sie in einem fort von sich gab, zehrten an seinen Nerven und gaben ihm das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen.

Sophie bedauerte es, diesen Traumsonntag im Haus ihrer Schwiegermutter verbringen zu müssen. Viel lieber wäre sie mit ihrem Mann und den Kindern in den Zoo gegangen. Als berufstätige Mutter fand sie unter der Woche kaum Zeit für solche Aktivitäten. Doch da Adrian sich zu diesem Sonntagsessen hatte überreden lassen, blieb nur die Entscheidung, das Beste daraus zu machen. Sich dagegenzustellen hätte nur einen weiteren unnötigen Streit hervorgerufen, auf den sie nicht erpicht war.

Sie fuhren am Konrad-Adenauer-Ufer in Richtung Marienburg, wo ihre Schwiegermutter wohnte. Auf der Uferpromenade herrschte reger Betrieb. Der Tag zeigte sich von seiner besten und angenehmsten Seite. Inlineskater schossen an winterlich vermummten Spaziergängern vorbei oder wichen Fahrradfahrern aus.

Die Hohenzollernbrücke spannte sich über den glitzernden Fluss zur anderen Rheinseite hinüber. Sophies Mundwinkel hoben sich bei der Erinnerung an ihren ersten Hochzeitstag. Adrian hatte sie damals auf die Brücke geführt, wo sie gemeinsam das Vorhängeschloss mit ihren eingravierten Namen neben die vielen anderen hängten, die dort bereits ihren Platz gefunden hatten. Romantischer ging es kaum.

„Oh, schaut mal! Das Schokoladenmuseum“, rief Isie auf dem Rücksitzt sehnsüchtig aus, deren braune Locken bis in ihren Rücken fielen. „Können wir da nicht reingehen?“

„Wir sind spät dran“, erklärte Adrian seiner Jüngsten und blickte entschuldigend in den Rückspiegel. „Oma wartet mit dem Essen.“

„Wenn sie mich heute nochmal in die Wange kneift, flippe ich aus!“, motzte Olivia und starrte missmutig aus dem Fenster.

„Es wäre zu schön, wenn wir einen einzigen Sonntag bei meiner Mutter verbringen könnten, ohne dass es kracht!“, entgegnete Adrian hitzig. „Ohne irgendwelche Dramen.“

Trotzig schob Olivia sich die schulterlangen Haare hinter die Ohren. „Jede Wette, dass sie wieder was zu meckern hat.“

„Ich bitte dich, Olivia! Sie ist eine alte Frau. Das darfst du nicht persönlich nehmen. Außerdem meckert sie ja nicht ununterbrochen“, versetzte Adrian seiner Tochter einen Dämpfer.

„Doch, genau das tut sie!“, kicherte Isie und gluckste. „Bestimmt wird sie mich ermahnen, in ihrem Wohnzimmer nicht herumzutoben. Einhundert pro!“

Sophie verkrampfte sich zunehmend, je weiter sie auf Marienburg zusteuerten. Als Adrian den Blinker setzte, um in die Seitenstraße nahe des Südparks einzubiegen, in dem sich das Haus seiner Mutter befand, brach ihr der Schweiß aus. Mit hochgezogenen Schultern rutschte sie tiefer in ihren Sitz.

Zwischen all den prachtvollen Villen mit den weitläufigen Grünanlagen und den schmucken Gartenhäusern aus dem vorletzten Jahrhundert wirkte das Dobrinthsche Anwesen irgendwie fehl am Platz. Der zweigeschossige weiße Flachbau erinnerte Sophie an einen steingewordenen Schuhkarton, der in diese Gegend so gar nicht passen wollte. Die Seitenflügel wurden durch eine Art gläsernen Turm miteinander verbunden, in dem sich eine Treppe aus weißen Marmorfliesen in den ersten Stock schwang. Jeder, der am Haus vorbeilief, hatte einen Einblick in die gläserne Diele, deren Innenwände samt und sonders in kahlem Weiß gehalten waren. Einzig eine moderne Statue auf einem hölzernen Sockel, von der Sophie nie so recht gewusst hatte, was sie eigentlich darstellen sollte, versprühte etwas Farbe.

Adrian parkte den Wagen vor der Garage und der Knoten in Sophies Bauch schnürte sich beim Anblick der kritischen Miene ihrer Schwiegermutter, die aus der Haustür auf die grauen Granitplatten des Vorplatzes trat, fester zusammen.

Was ihre Frisur anging, stand DoubleD ihrem Idol Jane Fonda in nichts nach. Ihre Haare waren blond gesträhnt, ihre Haut bemerkenswert straff und faltenfrei. Eine Perlenkette zierte ihren Hals, von dem sie stets behauptete, er sei zu lang geraten, weswegen sie ihn mit dem hochgestellten Kragen einer hellblauen Bluse kaschierte. In jungen Jahren musste diese Frau eine Schönheit gewesen sein. Was die Frage aufwarf, was sie so hart und biestig hatte werden lassen. Denn eigentlich hatte sie sich für ihre vierundsechzig Jahre gut gehalten.

Adrian schlug die Autotür zu und umrundete den Wagen, um seiner Frau und den Kindern die Türen zu öffnen. Dorothea blickte zu ihrem Sohn und bekam einen weinerlichen Ausdruck.

„Es geht mir überhaupt nicht gut, mein Junge. Ich brauche dringend einen Termin beim Kardiologen. Und meine Krampfadern machen mir zu schaffen. Es ist ein Kreuz. Das Älterwerden ist alles, nur kein Spaß.“

„Hallo, Mutti!.“ Adrian erwiderte die Umarmung seiner Mutter und Sophie kam nicht umhin, sich zu wundern. Soweit sie es mitbekommen hatte, war ihre Schwiegermutter in der vergangen Woche drei Tage auf dem Golfplatz gewesen und hatte gestern mit der Haushaltshilfe den Keller ausgemistet. Tat man das, wenn man unter Herzproblemen litt?

„Olivia!“, wandte sich Dorothea ihrer ältesten Enkelin zu, wobei sie missbilligend eine Braue in die Höhe zog. „Seit wann trägst du Jeans, die aussehen, als wären sie reif für die Altkleidersammlung?“, mäkelte sie und beäugte die Hose ihrer Enkelin, die, gebleicht und mit einigen ausgefransten Rissen versehen, der derzeitigen Mode entsprach. „Früher hätten wir uns mit Löchern in der Hose nicht aus dem Haus gewagt!“ In alter Gewohnheit streckte sie die Hand nach Olivias Wange aus.

„Oma, lass das! Das ist peinlich“, blaffte Olivia ihre Großmutter an und wich einen Schritt zurück.

Wie auf Kommando verschleierten Tränen DDs Augen. Sie fuhr zu Sophie herum, die mit Isie ein Stück abseits wartete. „Was bitte sagt meine Schwiegertochter zu diesem unhöflichen Verhalten? Und wieso lässt du deine Tochter so herumlaufen?“

„Hallo, Dorothea!“, zwang Sophie sich zu einer höflichen Begrüßung, obwohl sie lieber auf dem Absatz kehrtgemacht hätte. „Ich habe mit der Aufmachung meiner Tochter kein Problem. Und was das ständige Zwicken in die Wange angeht, wird Olivia langsam zu alt dafür. Außerdem tust du ihr damit weh.“

„Pffft!“, zischte DD. „Als ob das wehtäte! Aber das hätte ich mir ja denken können, dass du sie in Schutz nimmst.“

Immer noch einen draufsetzen, grollte Sophie, wurde jedoch von Isabelle abgelenkt, die freudestrahlend auf ihre Großmutter zu hüpfte.

Das verschmitzte Grinsen ihrer Jüngsten beunruhigte Sophie. Es mochte ja sein, dass sich ihre Älteste auf der Zielgeraden in Richtung Teeangerallüren befand, ihre Jüngste führte definitiv etwas im Schilde …

„Hallo, Oma!“, grüßte die Kleine.

„Hallo, Isabelle, meine Süße!“, flötete DD und beugte sich nach vorne, um Isie in die Arme zu schließen.

Mit angehaltenem Atem behielt Sophie ihre Tochter im Blick, die ihre Hand an die Wange ihrer Großmutter schmiegte und ihr genüsslich mit Daumen und Zeigefinger in die weiche Haut kniff.

„Autsch!“, schrie DD und wich vor ihrer Enkelin zurück. „Isie! Was soll denn das? Das tut doch weh!“

„Ach so?“, fragte Isie mit unschuldiger Miene. „Mag Livie es vielleicht deswegen nicht leiden?“

Sophie war sich völlig darüber im Klaren, dass sie ihre Tochter maßregeln sollte, konnte sich ein Schmunzeln über diese gelungene Retourkutsche jedoch nicht verkneifen. Für ein Kind von sechs Jahren hatte Isie einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, das hatte ihre Lehrerin mehrfach bestätigt. Ebenso, dass sie für ihr Alter überraschend wortgewandt und schlagfertig war.

„Ihr erlebt mich sprachlos!“, ereiferte DD sich.

Um die Lage zu entschärfen, hakte Sophie sich bei ihrer Schwiegermutter unter und drängte sie auf die offene Haustür zu. „Lass uns reingehen. Es ist kalt. Findest du nicht?“

Adrian stieß die Luft aus, die er unbewusst angehalten hatte. Wie Isie es vorausgesagt hatte, war seiner Mutter tatsächlich nichts Besseres eingefallen, als Olivia direkt zu kritisieren. Und da seine Jüngste ihre große Schwester anhimmelte, überraschte ihn ihre Reaktion nicht im Geringsten. Mit einer Sorgenfalte auf der Stirn, folgte er den anderen ins Haus und schloss die Tür hinter sich.

In der Diele schob er die weiße Schiebetür beiseite, hinter der sich die in die Wand eingelassene Garderobe befand und half seinen Töchtern aus den Jacken. Dass schon die Begrüßung dermaßen sprengstoffgeladen ausgefallen war, ließ ihn nichts Gutes erahnen.

Neben ihm schlüpfte Sophie aus ihren Mantel und hängte ihn auf einen Bügel. Zuversichtlich zwinkerte sie ihrem Mann zu, um ihm zu signalisieren, dass sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen würde. Keine Sekunde später zuckte sie unter DoubleDs schneidender Stimme zusammen.

„Wieso trägst du nur ständig dieses grauenhafte Schwarz? Man könnte meinen, du kämest zu meiner Beerdigung!“

Völlig perplex starrte Sophie ihre Schwiegermutter an, die heute in der Stimmung zu sein schien, an allem und jedem etwas auszusetzen zu haben.

„Weil es mir gefällt?“, stotterte sie überrumpelt.

„Oder weil es ihr steht?“, knurrte Adrian mit drohendem Unterton. „Bist du langsam mit deiner Kritik am Ende, Mutti?“, wies er seine Mutter zurecht.

„Ich habe niemanden kritisiert, Adrian!“, parierte Dorothea. „Ich werde in meinem Haus noch meine Meinung sagen dürfen.“

Oh, ja, bitte mehr davon!, dachte Sophie mit einem Anflug von Zynismus. Ich kann es kaum erwarten.

„Olivia? Hilfst du mir, den Tisch zu decken?“, lenkte Dorothea geschickt ab und strebte auf die Küche zu. „Und Isie? Du tobst mir nicht im Wohnzimmer herum!“

„Nein, Isie tobt nicht im Wohnzimmer herum“, stöhnte Adrian ergeben und trieb seine Jüngste an den Schultern auf den Wohn- und Essbereich zu, den man durch eine offene Flügeltür zur Linken der gläsernen Diele erreichte.

Sophie zählte ergeben bis zehn und folgte DD und Olivia in die Küche, die den Charme eines Autopsieraums versprühlte. Weiße Kacheln, weiße Wände, weißer Marmorboden. Weiße Hänge- und Unterschränke. Die weißen Ablageflächen, auf denen man normalerweise eine Kaffeemaschine, einen Toaster oder einen Wasserkocher vermutet hätte, lagen nackt unter den auf Hochglanz polierten Kacheln. Auf der Plastikdecke des Küchentischs, der sich in der linken Ecke neben der Terrassentür befand, war kein Krümel zu entdecken. Nicht ein einziges Bild oder ein Kalender zierte die nackten Wände.

Sophies Aufmerksamkeit richtete sich auf den Herd, auf dem das Essen vor sich hin köchelte. Der Geruch, der einem der Töpfe entströmte, ließ ihren Adrenalinspiegel in die Höhe schnellen, und ihr Magen drohte zu rebellieren. Sie rümpfte die Nase.

Das ist doch pure Absicht!

Ihr Blick bohrte sich in den Rücken ihrer Schwiegermutter, die gelassen die Teller aus dem Schrank nahm und sie ihrer Enkelin in die Hände drückte. Olivias hilfesuchenden Blick, die mit grimmig verzogenem Mund davonrauschte, ignorierte Sophie. Sie war fest entschlossen, ihrem Vorsatz treu zu bleiben, diesen Sonntag mit größtmöglicher Gelassenheit hinter sich zu bringen. Wenngleich der Duft, der durch die Küche strömte, diesen Vorsatz erheblich ins Wanken brachte.

Dorothea füllte die restlichen Speisen in vorgewärmte Schüsseln. „Vergiss die Untersetzer nicht!“, erinnerte sie ihre Schwiegertochter. „Hier, den Kartoffelbrei und die Karotten kannst du schon rüberbringen“, kommandierte sie, und Sophie schnappte sich die Schüsseln und suchte das Weite.