Maike Hempel

Leseprobe – „Herzklopfen im Ostseewind“

Kapitel 1 (Jette)

In ihrem kleinen Kastenwagen wurde Jette gehörig durchgerüttelt. Immer wieder holperte eines der Vorderräder in eines der unzähligen Schlaglöcher, die den Feldweg wie einen Schweizer Käse durchzogen und bei jedem Regenguss tiefer ausgewaschen wurden. Mit ihrem sturen Nachbarn Jörn über eine Behebung des Schadens zu diskutieren, war sinnlos. Genauso gut hätte sie einem Ochsen ins Horn petzen können.

Schon mehrfach hatte sie ihn zu überreden versucht, wenigstens Kies aufzuschütten, doch der alte Sturschädel weigerte sich standhaft. Angeblich störte es die Gäste seiner Ferienpension nicht. Doch lag für Jette klar auf der Hand, dass dem alten Geizkragen die Ausbesserungsarbeiten schlichtweg zu teuer waren. Und alles allein zu finanzieren, sah sie auch nicht ein. Zu dumm, dass der Weg genau auf der Grundstücksgrenze verlief und sie somit für alle anfallenden Entscheidungen seine Zustimmung benötigte.

Jette erreichte die Weggabelung und bog zu ihrem Hof ab. Endlich fand die Schaukelei ein Ende. Nach dem verregneten Winter hatte sie zumindest auf ihrem Teil der Zufahrt die lästigen Löcher zuschütten lassen, was einen spürbaren Unterschied machte und ganz nebenbei die Stoßdämpfer ihres Wagens erheblich schonte.

Am strahlend blauen Sommerhimmel war kaum ein Wölkchen zu sehen. Unmittelbar nach dem Frühstücksservice war sie am Morgen losgefahren, um ihre Vorräte im Supermarkt aufzufrischen. Die Gäste ihrer Pension waren allesamt ausgeflogen und würden bei diesem herrlichen Wetter ganz bestimmt einen entspannten Tag am Strand von Zinnowitz verbringen, den man vom Hof aus selbst mit dem Fahrrad bequem erreichte.

Jette war auf der Höhe der Wiese angelangt, in deren Mitte vier majestätische Buchen die Grundstücksgrenze zum Nachbarhof markierten. Bedächtig stakste ein Storch durch die hohen Gräser.

Ein Blick in den Rückspiegel bestätigte ihr, dass sich der Jeep ihres Nachbarn rasend schnell näherte, und sie schüttelte den Kopf. Allen Schlaglöchern zum Trotz heizte Jörn wie ein Wahnsinniger in seinem Geländewagen auf seinen Hof zu und zog eine riesige Staubwolke hinter sich her. Dass er dabei unsanft hin und her geworfen wurde, schien ihm nichts auszumachen.

Ihr Bauchgefühl riet ihr, die Zufahrt des Nachbarhofs zu kontrollieren, wo sie vor dem Wohnhaus ein einsames Huhn entdeckte, das dort definitiv nicht sein sollte.

»Oh nein, Bernadette! Wie oft denn noch?« Scharf bremste Jette ab und brachte das Auto zum Stehen. Mit einem rasanten Spurt hätte sie mit viel Glück vielleicht noch eine Chance, das ahnungslose Tier zu retten. Welchen Narren ihr dummes Huhn als einziges der ganzen Schar an diesem verflixten Nachbarhof gefressen hatte, war ihr ein Rätsel. Immer wieder büxste Bernadette dorthin aus.

Jettes Herz raste. Energisch stieß sie die Tür auf, umrundete den Wagen und rannte los. Ein Blick über die Schulter bestätigte ihr, dass sie sich beeilen musste.

Keuchend ließ sie die Baumreihe hinter sich zurück. Der Storch breitete bei den lauter werdenden Motorgeräuschen die Flügel aus und flog davon. Jetzt galt es nur noch, das Stück Wiese auf Jörns Seite zu überwinden, und sie könnte ihr Huhn retten. Bernadette war und blieb die Diva unter den anderen Hühnern. In aller Seelenruhe stolzierte sie mit vor- und zurückwippendem Kopf vor dem Haus ihres Nachbarn einher.

Abgehetzt erreichte Jette ihr Federvieh. »Du störrisches Hinkel!«, schimpfte sie, stieß jedoch vor Erleichterung die angehaltene Luft aus. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, es ging schließlich auf die Mittagszeit zu und wurde stetig wärmer. Liebevoll schloss sie das bunte Huhn in die Arme. »Dieser unsensible Klotz fährt dich glatt über den Haufen, das weißt du doch. Willst du unbedingt als gerupfte Fleischbeilage in seiner Hühnerbrühe enden? Was soll das? Es würde mir echt leid um dich tun!«

Ruckartig kam der Jeep zum Stehen und Jette hustete. Der aufgewirbelte Staub kratzte in ihren Atemwegen.

Grimmig stieg Jörn aus und sie erschrak bei seinem Anblick. Die dunklen, viel zu langen Haare wiesen an den Schläfen erste graue Strähnen auf und wirkten verfilzt. Genau wie der Bart, der geradezu nach einer Trimmung schrie. Ganz ehrlich? Im Vergleich mit ihrem Nachbarn mutete der Räuber Hotzenplotz aus Kindertagen wie eine gepflegte und absolut vertrauenerweckende Persönlichkeit an. Hatte der Mann keinen Spiegel im Haus?

»Kannst du deine Viecher nicht ein für alle Mal hinter einem Zaun verbarrikadieren?«, wetterte Jörn verärgert. »Irgendwann erwische ich dieses blöde Huhn und mache Suppenfleisch aus ihm.«

»Mein Gott, Bernadette ist ein Tier. Und die erkennen nun einmal keine Grundstücksgrenzen an.« Entnervt verdrehte Jette die Augen.

»Umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie früher oder später in meinem Kochtopf landet«, grummelte Jörn verstimmt, wandte sich ab und kletterte zurück hinter sein Steuer. Die Tür des Jeeps zog er dermaßen krachend zu, dass sowohl Jette als auch Bernadette in deren Armen erschrocken zusammenzuckten. Der Motor heulte auf und Jette sprang unverzüglich einen Schritt zur Seite.

»Wenn man hier jemanden wegsperren müsste, dann ganz eindeutig diesen wild gewordenen Zausel«, fluchte sie aufgebracht und stolperte über die Wiese zu ihrem Hof zurück. Vor dem Hühnergehege setzte sie ihr buntes Huhn auf dem Boden ab, das hocherhobenen Hauptes auf den halbhohen Zaun zuschritt, diesen flügelschlagend überwand und im kunterbunten Hühnerhaus verschwand.

Jette ging auf das Haupthaus ihres Hofs zu, unter dessen tief hängendem Walmdach Urlauber in acht Gästezimmern für die Dauer ihrer Ferien ein heimeliges Zuhause hatten.

An der Hintertür fiel ihr ein, was sie vergessen hatte.

Ihre Einkäufe!

Die frischen Lebensmittel schmorten in ihrem Wagen im prallen Sonnenlicht auf ihrem Zufahrtsweg.

 Ganz toll!

Gereizt trat Jette einen Stein beiseite, der über das Kopfsteinpflaster davonhüpfte. Bereits kurz nach dem Wachwerden hatte sie geahnt, dass dieser Tag für sie unter keinem guten Stern stand. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, einfach im Bett liegen zu bleiben.

Grelles Sonnenlicht hatte sie geweckt. Es war durch den schmalen Ritz zwischen den Übergardinen, die sie nicht richtig zugezogen hatte, auf ihr Gesicht gefallen.

Verschlafen blinzelnd hatte sie in alter Gewohnheit nach ihrem Ehering getastet, um ihn wie üblich an ihrem Ringfinger hin und her zu drehen. Es war zu einem gewohnten Aufwachritual für sie geworden. Doch statt des Rings hatte sie nur nackte Haut gespürt.

In ihrem Kopf hatte schlagartig bleierne Leere geherrscht, die sie völlig lähmte. Selbst das Atmen fiel ihr schwer. Außerstande, sich zu bewegen, rasten ihre Gedanken. Abgesehen von dem Hof, den sie übernommen hatte, war ihr Ehering das Einzige, was ihr von Klaas geblieben war. Sollte sie ihn verloren haben, käme das einer Katastrophe gleich.

Wie in Trance hatte sie sich aufgerichtet und die Beine aus dem Bett geschoben. Laut klang das Dröhnen ihres Herzschlags in ihren Ohren nach. Der Ring musste ihr vom Finger gerutscht sein.

Aber wann?

Und wo?

Sie war sich zu einhundert Prozent sicher, ihn beim Wäschemangeln gestern Abend noch aufblitzen gesehen zu haben. Er musste demnach irgendwo im Haus verloren gegangen sein.

Zumindest hoffte sie das.

Nachdem Jette ihr Bett durchwühlt und anschließend das gesamte Schlafzimmer auf den Kopf gestellt hatte, ließ sie resigniert die Schultern sacken. Der Verlust lag ihr wie ein tonnenschwerer Stein auf der Seele und schnürte ihr die Luft ab. Benommen hatte sie sich angezogen und anschließend die Wäschekammer durchsucht. Aber der Ring war und blieb verschwunden.

Der wird sich schon wieder einfinden, hatte sie sich Mut zugesprochen, bevor sie ins Esszimmer eilte, um das Frühstück für ihre Gäste vorzubereiten. Als sie danach zum Einkaufen aufbrach, zweifelte sie allerdings ernsthaft daran, dass sie an einem Tag wie diesem das Glück haben sollte, ihren Ring wiederzufinden.

Entschlossen, sich nicht entmutigen zu lassen, schob Jette die Sorge um ihren Ehering beiseite und vollführte eine Kehrtwende. Mit ausholenden Schritten stürmte sie zu ihrem Auto zurück. Sie konnte nur beten, dass die Lebensmittel in der Kühlbox während der zeitraubenden Rettungsaktion ihres Lieblingshuhns bei den vorherrschenden Temperaturen nicht verdorben waren. Dabei hatte sie es als positives Vorzeichen bewertet, vor gleich mehreren Läden, in denen sie die eine oder andere Inselspezialität für ihre Gäste erstanden hatte, mitten in der Hauptsaison einen Parkplatz zu finden. Den Rückweg hatte sie fast beschwingt zurückgelegt, weil sie den Vorfall mit ihrem Ring weitestmöglich verdrängte. Dann waren ihr Bernadette und ihr unwirscher Nachbar dazwischengekommen. Es gab Tage, die hatten es in sich.

Jette öffnete die Fahrertür und schwang sich hinter das Lenkrad. Sie versuchte, den Wagen zu starten, und es wunderte sie nicht die Bohne, dass der Motor nur zaghaft hüstelte.

Es war einfach nicht ihr Tag.

Mehrmals drehte sie den Zündschlüssel, aber der Motor gab lediglich ein heiseres Stottern von sich. Erbost trommelte Jette mit den Fäusten auf den Lenker ein und startete einen letzten Versuch. Endlich sprang die Kiste an. Was lag heute bloß in der Luft, dass sie von einer Katastrophe in die nächste segelte?

Sie parkte im Schatten vor dem Hintereingang des Gästehauses und schleppte ihre Besorgungen ins Haus. Im Erdgeschoss befanden sich neben einer geräumigen Küche mit direktem Zugang zum großzügigen Frühstücksraum auch eine Vorratskammer, die Waschküche und ein Wirtschaftsraum.

Die Böden waren größtenteils mit hübsch gemusterten alten Fliesen bedeckt. Nur im Frühstücksraum ließen knarzende Dielenböden das Alter des Bauwerks erahnen. Dort hatte Jette im letzten Winter das alte Mobiliar gegen helle Kiefermöbel ausgetauscht. Schlichte Stühle standen um rechteckige Tische, eine Vitrine und zwei Sideboards, über denen Bilder der Insel Usedom hingen, sorgten für behagliche Gemütlichkeit. Bunt gemusterte Vorhänge rahmten die Sprossenfenster ein, durch die helles Tageslicht hereinfiel.

Nachdem alles einsortiert und weggeräumt war, beschloss Jette, dass sie sich eine Tasse Kaffee mehr als nur verdient hatte, und ging auf ihren Kaffeevollautomaten zu. Auf der Ablage davor lag ein zusammengeknülltes Handtuch, mit dem sie gestern am späten Abend noch eines der Regalbretter in der Vorratskammer ausgewischt hatte. Eine Tüte Mehl war eingerissen und ein Teil ihres Inhalts lag um sie herum verteilt.

Jette brachte das Handtuch zum Spülbecken, wo sie es vorsichtig ausschüttelte, um zu verhindern, den Rest der Küche weiß zu bestäuben.

Sie beobachtete, wie sich das Mehl im Becken verteilte, als ein leises »Pling« erklang und sie ungläubig auf ihren Ring starrte, der aufrecht stehend in Richtung Abfluss kullerte. Quasi im letzten Moment bekam sie ihn zu fassen, umklammerte ihn mit der Hand und schloss vor Erleichterung die Augen.

Danke, danke, danke!, gelobte sie feierlich und presste die Faust, die sie um den Ring geballt hatte, auf ihre Brust. Tränen kullerten zwischen ihren geschlossenen Lidern hervor und Jette schluchzte leise, bevor sie vor dem Waschbecken auf die Knie ging und von einem unendlichen Glücksgefühl erfüllt wurde.

Mit tränenverschleierten Augen senkte sie die Faust und öffnete langsam ihre Finger. Und da lag er vor ihr. Ihr Ehering. Ein Schatz, den sie niemals verlieren durfte.

Behutsam schob Jette den Ring an ihren Ringfinger und schluckte hart. Wie sie ihn hatte verlieren können, war ihr schleierhaft. Er saß nämlich alles andere als locker am Finger.

Umso erstaunlicher, dass er überhaupt abgerutscht und im Handtuch hängen geblieben war.

Beim Aufstehen taumelte sie leicht, weil ihr schwindelig wurde. Ob es an den Ereignissen lag, die sie regelrecht überrollt hatten oder an der Hitze, die von draußen durch alle Ritzen kroch, konnte sie nicht sagen. Es war an der Zeit, die Fensterläden zu schließen und eine Runde schwimmen zu gehen, um den Kopf freizubekommen.