Maike Hempel

Leseprobe – „Ein Hauch von Sehnsucht im Ostseewind“

Kapitel 1 (Malou)

Ich habe das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten und fahre mit meinem knallroten Fiat Panda in Richtung Osten. Am blauen Himmel treiben weitläufig bauschige Wolken dahin. Die Temperaturen sind für Anfang Herbst recht angenehm, in einem langärmeligen Pullover lässt es sich draußen gut aushalten. Die Autobahnausfahrt Rostock ist vor einer halben Stunde an mir vorbeigeflogen, nach Usedom ist es nicht mehr allzu weit.

Fünfmal hat mein Handy, seit ich in Hannover losgefahren bin, geklingelt, fünfmal habe ich es großzügig überhört.

Was denkt Mike eigentlich, wer er ist?

Drei Jahre glaubte ich, diesen Mann mit seiner Bindungsangst und dem enormen Bedürfnis nach Freiraum zu lieben. Drei Jahre lang zögerte er es hinaus, mit mir zusammenzuziehen.

Mike, der Mann, der seinen Rückzugsort braucht.

Erst als der gnädige Herr von meinem Haus auf Usedom erfuhr, das meine verstorbene Tante mir hinterlassen hat, zog er ganz spontan – und ohne es zuvor mit mir abgesprochen zu haben – in meine abbezahlte Eigentumswohnung ein und beschloss kurzerhand, meinen Tagesablauf nach seinen Bedürfnissen umzukrempeln. Er dachte da beispielsweise an festgelegte Arbeitszeiten für mein »Gepinsel«, wie er sich ausdrückte, was ich schon reichlich unverschämt fand. Als er dann noch einen Bereich meines Ateliers für sich beanspruchte, brachte es das Fass zum Überlaufen, jetzt war nämlich ich diejenige, die sich in ihrem Bedürfnis nach Freiraum eingeschränkt fühlte. Mit meiner Geduld am Ende wies ich ihn gehörig in seine Schranken.

Abermals klingelt mein Telefon und eine Welle der Empörung kriecht meinen Hals hinauf.

Was will dieser Mann noch von mir, der mir viel zu lange auf der Tasche gelegen hat? Es gibt keinen vernünftigen Grund, mich länger mit ihm zu befassen. Nach meiner deutlichen Ansage, dass er so nicht mit mir umspringen kann, setzte er mir die Pistole auf die Brust. Entweder ich verkaufe das Haus meiner Tante auf der Insel – um unter anderem seinen finanziellen Engpässen ein Ende zu setzen und uns eine größere Wohnung zu ermöglichen – oder er trennt sich von mir.

All das nach drei Jahren, in denen er mir stets versicherte, ich wäre die Liebe seines Lebens.

Ich bin Kinderbuchillustratorin und verdiene nicht schlecht. Allerdings eindeutig zu wenig, um auf die Dauer einen Mann auszuhalten, der seine überzogenen finanziellen Ansprüche an das Leben mit Mitte dreißig nicht in den Griff bekommt. Mike wirft nicht nur in seinem Café, sondern auch im privaten Bereich das Geld zum Fenster hinaus. Zudem hat er das Finanzamt an der Backe, weil er Steuerabgaben meidet wie der Teufel das Weihwasser. Dafür will ich einfach nicht länger einstehen.

Mein Blick streift den Fußbereich vor dem Beifahrersitz und das kuschelige Kissen, auf dem Otto, der Mops, selig vor sich hin schnorchelt.

Ursprünglich gehörte er Mikes leicht exzentrischer Patentante. Seit diese jedoch aus gesundheitlichen Gründen in eine Altersresidenz ziehen musste, in der Hunde nicht geduldet sind, übernahm Mike den niedlichen Vierbeiner. Was im Klartext hieß, er parkte ihn bei mir und ich durfte mit dem drolligen Kerl Gassi gehen.

Das funktionierte wunderbar, bis unsere Trennung ins Haus stand. Da drohte Mike mir damit, Otto in ein Tierheim abzuschieben, weil er in einer Mietwohnung – die er sich nun suchen müsste – garantiert keinen Hund würde halten dürfen. Selten hat mich etwas so enttäuscht. So bitter, dass ich mir noch am gleichen Tag schriftlich geben ließ, dass der Hund mit sofortiger Wirkung in meinen Besitz übergeht und ich die Verantwortung für ihn übernehme.

Mikes Unterschrift kam für mich einem Scheidungsurteil verdammt nahe und ich fühlte mich wie befreit.

Ich drücke die Arme durch und umfasse mein Lenkrad fester. Die Autobahn ist an diesem frühen Nachmittag fast unbefahren. Es herrscht so gut wie kein Verkehr.

Wie es aussieht, hat Mike ziemlich schnell Ersatz für mich gefunden. Dieser Mistkerl hatte keine vier Wochen, nachdem er mir den Laufpass gegeben hat, schon die Nächste in seinem Bett, die ihm aus der Patsche hilft und seine Kosten deckt. Und als wäre das nicht schlimm genug, durfte die unverzüglich in seine Wohnung einziehen, es ist nicht zu fassen. Von wegen Bindungsangst und Bedürfnis nach Freiraum. Mike, der Freidenker, hat eine neue Finanzquelle aufgetan, die er übergangslos anzapft. Das tut nicht nur weh, das bringt mich auf die Palme.

Bald beginnt für dich ein neues Leben, sage ich mir und versuche mich zu beruhigen.

Ohne Mike und sein schäbiges Verhalten, das mich bewog, Hannover den Rücken zuzukehren. Wenigstens bin ich dank der Großzügigkeit meiner Tante in der absolut glücklichen Lage, finanziell unabhängig zu sein. Was für ein Segen.

Mamas Schwester verstarb überraschend und viel zu früh. Greta war eine ganz besondere Frau, bei der ich mit meiner Schwester oft die Ferien verbrachte. Besonders aufregend fanden Amelie und ich unsere Aufenthalte bei ihr, wenn Mama arbeitete und wir sie allein besuchten. Für uns behütete Mädchen aus der Großstadt war das stets ein ganz besonderes Highlight, denn Gretchen lehnte Ausgangsbeschränkungen in jeglicher Form grundsätzlich ab. Wir hatten uns mit Nina und Lotte angefreundet, den Nichten von Gretas bester Freundin Hennie, die in unserem Alter waren. Es dauerte nicht lange und wir gehörten zur Dorfgemeinschaft wie selbstverständlich dazu.

Gretas Beerdigung war ergreifend und machte mir arg zu schaffen. Mein letzter Besuch bei ihr war länger her. Nachbarn und Freunde trauerten und bedauerten die Lücke, die die stets gut gelaunte Frau hinterlassen hatte. Voller Mitgefühl sprachen uns die Trauergäste ihr Beileid aus und ich erstickte beinahe an meinem schlechten Gewissen, weil ich meine Tante nicht noch einmal gesehen hatte. Wie es so oft geschieht, hatte ich geglaubt, noch ewig Zeit zu haben.

Am selben Tag bestellte uns der Notar ein und las uns einen Brief von Greta vor, in dem die Gute uns für all die Liebe und die Freude dankte, die wir ihr nach dem frühen Tod ihres Mannes geschenkt hatten. Sie berichtete von ihrem Herzfehler, den sie allen verschwiegen hatte, um die ihr verbleibende Zeit so unbeschwert wie möglich zu genießen.

Da sie kinderlos geblieben war, vermachte sie Mama ihr gesamtes Barvermögen. Ich bekam das verwunschene Haus in Korswandt, das der Familie ihres Mannes gehörte und für gewöhnlich Feriengäste beherbergte. Meiner Schwester hinterließ sie ihr gemütliches reetgedecktes Backsteinhaus und ihre Boutique in Heringsdorf.

Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, endete Gretas Schreiben, genau wie das Leben. Ich habe meines gefeiert und es nie bereut. Also lasst es krachen, Mädels. Und hört auf zu heulen. Mitnehmen kann ich nichts und ich gebe euch mein Erbe gerne.

Greta eben. Wer hätte gedacht, dass ihr letzter Wille für mich lebensverändernd werden würde?

Die Zecheriner Brücke verbindet das Festland mit Usedom. Unter mir glitzert der Peenestrom im Sonnenlicht und mein Magen kribbelt vor Aufregung.

Auf der Insel fliegen ausgedehnte Wiesen und Felder an mir vorbei. Das weite Land der Ostseeinsel ist von Waldgebieten durchzogen, deren Baumkronen der Herbst in satte Rottöne taucht.

Hannover ist endgültig Geschichte. Wie meine Schwester, werde ich an der Ostsee heimisch. Die wenigen Möbel, die ich behalten will, hat das Umzugsunternehmen gestern noch abgeholt. Alles andere habe ich verkauft oder für den Sperrmüll auf die Straße gestellt.

Usedom Stadt bleibt hinter mir zurück und Otto rekelt sich im Fußraum. Erwartungsvoll schaut er zu mir auf und ich versichere ihm, dass wir bald da sind.

So steht es um mich. Ich rede mit Hunden.

Tatsächlich bin ich fest davon überzeugt, dass der kleine Mops jedes einzelne meiner Worte versteht. Demzufolge gehe ich davon aus, dass auch er aufatmet, als wir eine Viertelstunde später in den kleinen Ort Korswandt gelangen und ich den Blinker setze.

Beim Anblick des von alten Baumriesen umgebenen Hauses am Ende der abgelegenen Straße wird mir ganz warm ums Herz. Die Backsteinwände und das mit roten Ziegeln gedeckte Satteldach scheinen im Licht der schräg stehenden Sonne förmlich zu glühen. Die Holzbank unterhalb des Küchenfensters ist in die Jahre gekommen. Da sie im schlimmsten Fall unter dem Gewicht eines Erwachsenen zusammenbrechen würde, hat jemand – vermutlich Ella, die sich hier um alles kümmert – zwei wunderschöne mit Blumen befüllte Tonschalen auf der einladenden Sitzfläche angeordnet. Das großzügige Sprossenfenster darüber wird wie die massive Eingangstür und die restlichen Fenster des Hauses von versetzten helleren Backsteinen eingerahmt.

Meinen Wagen stelle ich auf dem Parkstreifen des Hauses gegenüber ab. Mit steif gewordenen Gliedern steige ich aus und strecke mich nach der langen Fahrt. Ich befreie Otto aus dem Fußraum, der sich augenblicklich in die Büsche trollt.

Ich hole mein Gepäck aus dem Kofferraum und sperre die Haustür auf. Otto schießt an mir vorbei und läuft zielstrebig zum Freiraum unterhalb der Treppe, als hätte er spontan entschieden, wo sein Körbchen stehen soll. Vorwurfsvoll sieht er mich an, weil ihm der nackte Boden entgegengähnt.

»Ich eile, du Sklaventreiber!«, beschwere ich mich halbherzig und stelle den mitgebrachten Koffer ab.

Aus dem Auto schnappe ich mir das Hundekörbchen mit dem flauschigen Matratzenbezug von der Rückbank. Ich stelle es unter die Treppe und streichle den hineingehüpften Mops ausgiebig, bevor ich aufstehe und mich im Eingangsbereich des Hauses umsehe.

Neben dem schmiedeeisernen Kaminofen lässt eine lang gezogene Garderobe auf die häufige Anwesenheit vieler Feriengäste schließen. Die Tür zur Küche steht offen, daneben schwingt sich eine Treppe u-förmig in den ersten Stock.

Im Frühstücksbereich, in den man durch einen Rundbogen gelangt, sind die geblümten Decken von den Tischen verschwunden. Auf dem alten Sideboard vor der Wand stehen neben einer leeren Blumenvase Salz- und Pfefferstreuer und mehrere Zuckerdosen bereit.

Genau wie im Wohnzimmer, das man durch einen weiteren Rundbogen im hinteren Teil des Eingangsbereichs erreicht, durchbrechen von schweren Stores gerahmte französische Fenster die soliden Außenmauern, durch die selbst bei düsterem Wetter genug Tageslicht hereinfällt.

Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob ich das B&B weiterführen soll oder nicht. Einerseits sehne ich mich danach, mich für eine Weile zurückzuziehen, andererseits bringt mir die Ferienvermietung gutes Geld ein, sodass ich nur noch Aufträge annehmen müsste, die mir absolut zusagen. Eine verlockende Vorstellung. Ella meint, dass sie vorübergehend keine Reservierungen angenommen hat, damit ich in aller Ruhe darüber nachdenken kann, wie es weitergeht.

Ohne es beabsichtigt zu haben, schlendere ich ins Wohnzimmer. Der heimelige Kamin ist von unzähligen Bildern mit Ostsee-Impressionen umgeben. Vor der Feuerstelle sind Sessel im Halbkreis angeordnet, die bunten Kissen darin sorgsam aufgeschüttelt. Bordeauxrote Vorhänge rahmen die deckenhohen Fenster ein. Da das Haus derzeit leer steht, sind sie zugezogen.

Unruhig steige ich die Stufen der Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich vier geräumige Schlafzimmer mit komfortablen Bädern befinden. Des Weiteren führt eine schmale Stiege unters Dach in zwei weitere Räume. Das unter der Schräge liegende Bad ist funktionstüchtig, müsste aber dringend erneuert werden. Die Kacheln haben ihren Glanz verloren, die Armaturen sind abgenutzt und wirken schäbig.

Spontan beschließe ich, den Dachboden notdürftig zu renovieren und mich erst einmal hier einzunisten. Gleich am Montag bringt der Umzugswagen meine Möbel, bis dahin sollte ich es geschafft haben, das größere der beiden Zimmer leer zu räumen. Die Lichtverhältnisse sind dank des bis zum Boden reichenden Dachgaubenfensters ideal, dort werde ich mein Atelier einrichten. Das andere Zimmer lasse ich, wie es ist, und nutze es als Schlafzimmer. Es macht keinen Sinn, auf die Schnelle weitreichende Entscheidungen zu treffen, die man später unter Umständen bereut.

Zum Einzug kann ich mit Hilfe rechnen, meine Schwester Amelie wohnt nicht weit entfernt. Außer ihr haben sich Nina und Lotte angekündigt, die Nichten von Gretas bester Freundin, die wir von unseren Ferienaufenthalten kennen. Zusätzlich reist Mira, die Kinderbuchautorin, mit der ich seit Kurzem zusammenarbeite, an, um mir ebenfalls unter die Arme greifen. Zwar leidet sie unter einer Tierhaarallergie, meint jedoch, sich für die kurze Zeit mit Medikamenten über Wasser halten zu können, das wäre es ihr wert. Sie lebt auf der Nachbarinsel Rügen und hat es nicht allzu weit. Das wird bestimmt lustig.