Maike Hempel

Leseprobe – „Ein Hauch von Liebe im Ostseewind“

Erstes Kapitel (Amelie)

Das schrille Geräusch der Klingel zerreißt die sonntägliche Stille im Haus. Erschrocken richte ich mich auf dem Sofa auf. Noch gänzlich in die Handlung meines Buches vertieft, taste ich suchend mit den Füßen nach meinen Flip-Flops, schlüpfe hinein und schlurfe zur Haustür. Ich habe länger gelesen, als mir bewusst war. Die Abenddämmerung setzt bereits ein. Die tief stehende Sonne taucht den Himmel in farbenprächtige Rot- und Lilatöne, die mit den letzten orangeroten Blüten der Kletterrose wetteifern, die sich am Spalier vor der kleinen Laube in meinem üppig bewachsenen Vorgarten in die Höhe zieht.


Auf den Sandsteinplatten des gepflasterten Wegs wartet meine drei Jahre ältere Schwester. Ihre Haare sind so braun wie meine, fallen ihr jedoch in großen Locken auf den Rücken. Ihre Jeans sitzt perfekt, der ausgewaschene Stoff umspielt wohlgeformte Hüften. Wenngleich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns beiden besteht, ist sie eindeutig die kurvenreichere Ausgabe der Winkler-Schwestern.

»Malou?« Meine Brauen schnellen in die Höhe. »Was machst du denn hier?«, frage ich überrumpelt. Irgendetwas stimmt überhaupt nicht, das spüre ich überdeutlich. Malous Augen sind von dunklen Schatten umrandet, die mich mit Sorge erfüllen. Gleichzeitig streift mein ruheloser Blick einen aus allen Nähten platzenden alten Lederkoffer zu ihren Füßen einschließlich einer prall gefüllten Reisetasche. Wie es aussieht, ist sie nicht nur für ein paar Tage angereist.
»Hi Amelie, Schwesterherz. Bitte mich rein und ich verrate es dir!« Malou beugt sich vor, um nach dem Koffergriff zu greifen. Dabei rutscht ihr der Riemen ihrer Handtasche von der Schulter und die Tasche fällt auf ein hellbraunes Fellknäuel mit schwarz abgesetzter Schnauze und hervorstehenden Augen, das ich eben erst bemerke. Der verschreckte Vierbeiner jault auf und schaut missbilligend zu meiner Schwester auf.


»Was in aller Welt macht denn Otto bei dir? Der weicht Mike doch sonst nie von der Seite!« Argwöhnisch betrachte ich den seltsamen Hund mit seiner ausgeprägten Nasenfalte und den nach vorne gekippten Ohren. Er gehörte ursprünglich der leicht exzentrischen Patentante des derzeitigen Freundes meiner Schwester. Seit diese aus gesundheitlichen Gründen in eine Altersresidenz umziehen musste, in der Hunde nicht geduldet sind, kümmert sich Mike um den Mops.


»Ach Mike.« Leise seufzend hebt Malou das Schoßhündchen auf, das mich vorwurfsvoll ansieht, als hätte ich die Tasche auf ihn fallen gelassen. »Der ist Geschichte!«
Was die Ringe unter Malous Augen erklärt.
»Ach Süße!« Ich breite die Arme aus. »Lass dich drücken.« Erschüttert trete ich aus dem reetgedeckten Backsteinhaus und umarme meine Schwester mitsamt Mops, der die Lider zusammenkneift und den Kopf einzieht. »Hereinspaziert. Um den Koffer kümmere ich mich.«

Malou schiebt die Trageriemen ihrer Handtasche zurück auf die Schulter und streicht dem Vierbeiner auf ihrem Arm liebevoll über den Nacken. Voller Staunen beobachte ich, wie sie die vollgepackte Reisetasche mit spielerischer Leichtigkeit anhebt und auf Zehenspitzen auf das Haus zutänzelt, um mit ihren hohen Absätzen nicht in den Zwischenräumen der Sandsteinplatten zu versinken. Meine Schwester verfügt über das unschlagbare Talent, in High-Heels trittsicher ans Ziel zu gelangen, eine Eigenschaft, von der ich bestenfalls träume.
Schnaubend hebe ich den Koffer an. »Wow! Hast du deinen gesamten Hausstand im Gepäck?«, witzele ich und folge ihr ins Haus.

»Das ist gerade mal das Nötigste!« Malou stellt die Tasche vor den Kamin, der eine Art Trennlinie zwischen der gemütlichen Bauernküche und dem einladenden Wohnzimmer bildet.
Abgetretene Holzdielen bedecken den Boden des langgezogenen Raums. Das über Eck stehende alte Plüschsofa vor dem Kamin ist von Kissen überhäuft und befindet sich mit der Rückenlehne den französischen Fenstern gegenüber, durch die man in den Garten gelangt. Seitlich des Kamins reihen sich von Büchern überquellende Holzregale vor honigfarbenen Wänden aneinander. An der Stirnseite des Raums flankieren eine verschnörkelte Weichholzkommode und eine antike Tischnähmaschine mit Pedalantrieb die Tür, die in den hinteren Bereich des Hauses führt.
Seit knapp einem Jahr darf ich diesen Traum von einem Heim mein Eigen nennen und bin wirklich dankbar dafür. Auch wenn ich meine Tante Greta nach wie vor vermisse. Mamas ältere Schwester verstarb unerwartet und vermachte mir ihr reetgedecktes Haus sowie ihre gut gehende Boutique im nahegelegenen Heringsdorf, das wie Ahlbeck und Bansin zu den Kaiserbädern Usedoms zählt.

Wehmütig schaut Malou sich um. »Wie schön, dass du alles größtenteils belassen hast, wie es war. Ich fühle mich, als würde ich wie früher die Ferien hier verbringen. Als wäre Greta noch da.« Hinter dem ausladenden Küchentisch lässt sie sich mit ihrem Mops auf dem Arm auf das alte Küchensofa plumpsen.
»Ich habe Gretas Einrichtung immer gemocht. Es gab keinen Grund, mich von den alten Schmuckstücken zu trennen. Zumal ich mit meiner Vergangenheit auch meine Möbel hinter mir gelassen habe.« Ich schleppe den Koffer ans andere Ende des Raums und schiebe ihn in den kleinen Flur, von dem aus man zu den Schlafzimmern und in das komfortable Bad mit Dusche und Wanne gelangt. Lautstark schließe ich die Tür und kehre in den Küchenbereich zurück. »Lediglich die weißen Wände waren mir zu fade, also habe ich sie gestrichen.«
»Der Raum strahlt eine ganz eigene Gemütlichkeit aus«, lobt Malou und lehnt sich seufzend zurück.
»Dein Bett beziehe ich dir später. Magst du einen Tee oder lieber etwas Stärkeres?«
»Das kommt ganz darauf an, was du vorrätig hast«, meint meine Schwester und klopft mit der Hand auf das freie Stück Polster neben sich. »Darf er?«

Ich bin nicht unbedingt ein Hundefreund, aber da Otto nun schon mal da ist …
»Warte!«, bitte ich sie und hole unter den Kissen des Plüschsofas eine Fleecedecke hervor. Otto hat sehr feines helles Fell. Die Härchen kriege ich aus dem schweren bordeauxroten Bezug nie mehr heraus.
Nachdem der Mops es sich leise grunzend auf der Decke bequem gemacht hat, gehe ich zur Küchenzeile und öffne den Kühlschrank. »Du hast die Wahl zwischen Sekt und Weißwein.«
»Ich nehme den Wein!« Malou lehnt sich entspannt zurück. »Heute darf es gerne knallen«, sagt sie und es beunruhigt mich, wie enttäuscht ihre Stimme klingt. Im warmen Licht der Deckenlampe treten die dunklen Ränder unter ihren Augen noch stärker hervor. Sie sieht müde aus.

Ich schenke den Wein in die Gläser und setze mich ihr gegenüber an den Tisch. »Auf uns!«, stoße ich mit ihr an und die Gläser klirren leise. »Und jetzt will ich wissen, was los ist. Wieso ist Mike Geschichte?«
Malou trinkt einige Schlucke. »Drei Jahre waren wir ein Paar und drei Jahre lang zögerte Mike es hinaus, mit mir zusammenzuziehen. Du erinnerst dich?«
Ich nicke zustimmend. »Wir haben oft genug über seine Bindungsangst und den ungeheuren Freiraum, den der gnädige Herr benötigt, gesprochen.« Meine Schwester weiß, dass ich kein Mike-Fan bin. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht.

Unglücklich schaut Malou mich an und eine steile Falte erscheint zwischen ihren dichten Brauen. Noch mal hebt sie ihr Glas an, trinkt es in einem Zug aus und hickst leise. »Urplötzlich wollte er dann doch bei mir einziehen. Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass der Mann mit besagter Bindungsangst und dem übergroßen Drang nach Freiraum weitere Macken in petto hatte. Mein reizendes Alpha-Männchen plante nämlich mein Leben mal eben umzustrukturieren. Er dachte da gleich an mehrere Punkte: Feste Arbeitszeiten für mich, im besten Fall tagsüber, wenn er arbeitet, es ihn ergo nicht stört, wenn ich beschäftigt bin. Zusätzlich beanspruchte er eine Ecke meines Ateliers, die schlussendlich größer ausfiel, was eine deutliche Verkleinerung meines künstlerischen Schaffensraums mit sich gebracht hätte. – Wohlbemerkt in einer von mir finanzierten Wohnung. Mike hat nach wie vor das Finanzamt an der Backe, weil er es mit den Steuerabgaben für sein Café nicht so ernst genommen hat«, fügt sie mit einem Hauch von Zynismus hinzu.

»Wie bitte?« Völlig perplex starre ich meine Schwester an. »Sollst du deine Bilder, mit denen du immerhin auch sein Leben finanzierst, zukünftig am Küchentisch zeichnen, oder was?« Ich mochte diesen Mike nie und kann nicht nachvollziehen, was sie an diesem launischen Miesepeter findet, der sie zudem von oben herab behandelt. Malou ist Kinderbuchillustratorin und ihre Figuren sind fantasievoll und ausgesprochen liebenswert. Sie ist in der Lage die Welt aus der Perspektive eines Kindes zu sehen und diese entsprechend zu Papier zu bringen.
»Treffer versenkt.« Malou schwenkt ihr Glas hin und her. »Kriege ich noch einen?«

»Was hältst du von Schnittchen?«, schlage ich ihr vor. »Ich schmiere ein paar Brote und schneide sie in kleine Happen. So kommt dir nicht ausschließlich der Wein hoch, falls dir übel wird?«
»Tolle Idee! Ich weiß, warum ich dich so liebe«, säuselt mein Schwesterchen und verdreht die Augen. »Das letzte Mal habe ich zum Frühstück etwas gegessen.«
»Wie? Bist du von Hannover aus durchgefahren?« Es muss ihr ziemlich dreckig gehen. Malou hasst lange Autofahrten.
»Bis auf eine Pinkelpause für Otto und zum Tanken schon, ja.«

An die Ablagefläche gelehnt schmiere und belege ich uns einige Scheiben Brot. Ich schneide sogar liebevoll kleine Cornichons in Scheiben, die Malou beim Verzehr von Leberwurst für unerlässlich hält. Ihr Glas habe ich aufgefüllt, aus dem sie immer wieder einen Schluck trinkt. Meine Gedanken kreisen um das eben Gehörte.
»Und wie geht die Geschichte weiter?«
Ratlos bläht Malou die Wangen. »Na, was glaubst du? Ich habe Mike gehörig die Meinung gesagt. Bei aller Liebe!«, schimpft sie. »So nicht.«
»Und? Wie hat der schöne Mike reagiert?«
»Er hat mir vorgeworfen, egoistisch und beziehungsunfähig zu sein.« Um Manous Mund liegt ein verbitterter Zug. »Immerhin weiß er von dem kleinen Haus in Korswandt, das Greta mir vermacht hat. Dass es dauerhaft an Feriengäste vermietet wird, hat ihm nicht gepasst. Er wollte es genauso verkaufen wie meine fast abbezahlte Eigentumswohnung und unserem Raumproblem auf diesem Weg ein Ende setzen.« Aufgebracht schüttelt sie den Kopf.
»So ein Arsch!«, rege ich mich auf. »Und dann?«
»Da ich diesen Vorschlag weder in Erwägung gezogen noch ihm zugestimmt habe, hielt Mike es für angebracht, unsere Beziehung zu beenden.«
»Einfach so?«, staune ich.
»Einfach so!«, bestätigt mir meine Schwester.

Mein Bauchgefühl hat recht behalten. Mike kam mir von Anfang an egoistisch und gefühlskalt vor.
Malou stützt die Ellbogen auf die Tischplatte und legt ihr Kinn in beide Hände. »Abschließend teilte er mir mit, dass er aufgrund meines starrsinnigen Verhaltens nicht umhinkäme, den armen Otto in ein Tierheim abzuschieben, da er in seiner Mietwohnung auf Dauer keinen Hund halten darf. Genauso wenig wie seine Tante in dieser Altersresidenz. Da habe ich restlos begriffen, wie fertig ich mit diesem Mann bin. Es kam mir vor, als hätte ich ihn erstmals so gesehen, wie er wirklich ist. Eiskalt und ganz schön berechnend.«
»Du erlebst mich sprachlos!«, sage ich fassungslos.
»Otto abschieben!«, regt Malou sich auf. »Wie erbärmlich kann Mann sein?«
»Es tut mir leid für dich. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass du ohne ihn besser dran bist«, versuche ich mich an einem Trost und bringe den Teller mit den Schnittchen zum Tisch. Mike hat Malous Gutmütigkeit lange genug ausgenutzt. Und auf der Tasche gelegen hat er ihr obendrein. »Lieber allein allein, als zu zweit allein«, sage ich entschieden.

»Weise, weise, kleine Schwester«, stimmt Malou mir zu und ergreift ein Stück Brot.
Wir verfallen in Schweigen und machen uns über die Schnittchen her. Otto schnorchelt leise vor sich hin und versucht nicht einmal von Malou einen leckeren Happen zu erbetteln, so geschafft ist er.
»Es gibt noch einen anderen Grund für meinen spontanen Überfall«, gesteht meine Schwester mir nach einer Weile ein. »Auf Rügen lebt eine Kinderbuchautorin, die mit mir zusammenarbeiten möchte. Wir dachten, es wäre vernünftig, wenn wir uns persönlich kennenlernen. Deshalb hat mich besagte Autorin für einige Tage zu sich eingeladen.«
»Das hört sich gut an. Herzlichen Glückwunsch!«, freue ich mich für sie.

»Es gibt da nur einen klitzekleinen Haken«, beginnt Malou zögerlich und ich ahne förmlich, was kommt. »Sie leidet unter einer Tierhaarallergie. Deswegen dachte ich …«
Den Blick kenne ich.
»Neiiiin!«, rufe ich entschieden und kreuze beide Zeigefinger, als wolle ich einen bösen Zauber abwehren. »Das dachtest du NICHT!!!«
Ich habe null Erfahrung mit Haustieren und das kann gerne so bleiben.
»Bitte!«, bettelt meine Schwester. »Wo soll ich Otto denn sonst lassen? Ohne deine Hilfe bin ich aufgeschmissen.«
»Vergiss es!«, schnaube ich und verschränke trotzig die Arme vor der Brust.
»Ach Amelie. Ein Mops im Laden ist total stylisch. Die Leute werden ihn lieben.«
Super! Und ich erst!
»Es ist ganz einfach«, versucht sie mich weiter zu überreden. »Sein Körbchen hole ich nachher aus dem Wagen und Futter habe ich mitgebracht. Otto ist pflegeleicht. Wenn er nicht döst, bespaßt er bestenfalls die Kundschaft.«
Ist klar!
»Er muss lediglich ab und zu mal raus, sein Geschäft erledigen.«
Habe ich es doch geahnt! An die netten orangefarbenen Beutelchen, mit denen man besagtes Geschäft einsammelt, möchte ich nicht mal ansatzweise denken!
»Bitte Schwesterherz!«

Vorwurfsvoll schaue ich Malou an und mein Blick schweift zu ihrem Mops, der auf der Decke auf meinem Küchensofa liegt und hörbar schnauft. Als hätte er bemerkt, dass ihn jemand beobachtet, öffnet er seine samtschwarzen Augen und zwinkert mir mit einem davon verschwörerisch zu.
Blöder Mops!
»Ja, von mir aus!«, maule ich genervt.
»Danke, danke, danke!«, frohlockt Malou. »Es ist schließlich nur für ein paar Tage. Danach entschwinde ich für zwei Wochen in mein Haus. Die Hausverwaltung hat für diesen Zeitraum keine Mietanfrage, sodass ich einen kleinen Sonderurlaub anhänge.«
»Ach!«
»Da staunst du was?«, amüsiert sich meine Schwester auf meine Kosten. »Ich will in aller Ruhe darüber nachdenken, wo ich zukünftig wohnen und arbeiten möchte. In Hannover hält mich nichts. Es ist also gut möglich, dass wir bald wieder Nachbarn werden. Die Seeluft soll ausgesprochen inspirierend sein. Nachdem Mike sich von mir getrennt hat, spricht eigentlich alles für einen Umzug.«
Okay. Wenn das so ist, bin ich bereit, einiges in Kauf zu nehmen.

***

Der Eingang der Boutique, die mir die Schwester meiner Mutter hinterlassen hat, liegt in einem von Schaufenstern gesäumten Durchgang. Im Laden vis-à-vis befindet sich Mandys Bademodengeschäft. Am Ende des Durchgangs gelangt man zu einem Treppenhaus, das den Zugang zu den Ferienwohnungen im ersten Stock ermöglicht.
Leise rasseln die Schlüssel an meinem Bund. Über mir vernehme ich das zarte Klingen der von der Decke herabhängenden Glöckchen, die beim Öffnen der Tür hin und her schwingen. Mein flüchtiger Blick streift mein Warenangebot, das aus trendiger Bekleidung, auserlesenem Schmuck und originellen Accessoires besteht.

Ich hänge meine Umhängetasche an die Lehne des Korbsessels hinter dem Tisch und schlüpfe aus meiner moosgrünen Strickjacke. Sie passt farblich zu meinem ärmellosen Long Shirt und dem ebenfalls grünen knöchellangen Rock. Der Wetterbericht verkündet ein Tief. Für Ende August ist es eindeutig zu kühl.

Beim Anblick der bunten Hippieklamotten an der rollbaren Kleiderstange neben dem antiken Tisch, auf dem sich meine Kasse befindet, lächle ich glücklich. Nach dem Aufbügeln will ich sie zur Attraktion meines Schaufensters machen. Sie wurden mir gestern kurz vor Ladenschluss angeboten und bestätigen meine neuste Geschäftsidee, ausgefallene Stücke secondhand in Kommission anzunehmen. Bisher ist es ganz gut angelaufen.

Wie jeden Morgen giere ich nach einer Tasse Kaffee und wende mich der Stirnseite des Ladens zu. Die hölzerne Regalwand ist ein Überbleibsel des ehemaligen Tante-Emma-Lädchens, der hier – lange ist es her – einmal existiert hat. Mein Sammelsurium an gehorteten Schätzen passt hervorragend zum nostalgischen Flair der alten Regale. In den größeren Fächern befinden sich ausgefallene T-Shirts, Pullover und auf Stapel gelegte Hosen in unterschiedlichen Farben. Verrückte Hüte dienen als Blickfang. Aus einigen offen stehenden alten Schubladenfächern quellen bunte Perlenketten und andere Accessoires dekorativ hervor oder baumeln an runden Schubladenknäufen daran herunter.
Inmitten der Regalwand führt eine unauffällige Tür in einen schmalen Flur, der den Zugang zur Küche und der Gästetoilette ermöglicht. Ich schalte die Kaffeemaschine ein und atme genüsslich das bitterherbe Aroma ein, das alsbald die kleine Küche erfüllt. Aus dem Verkaufsraum höre ich die Glöckchen bimmeln und schiebe die Tasse beiseite, die ich aus dem Regal genommen habe. Kundschaft geht vor.

Im Verkaufsraum wartet Gitti Krespner, die mir ab und zu aushilft. Sie ist eine patente ältere Frau, auf deren Stirn ich Sorgenfalten erkenne. Gitti wirkt regelrecht bedrückt.
»Gitti?«, winke ich sie herbei. »Magst du einen Kaffee mittrinken?«
Seufzend setzt Gitti sich in Bewegung und sinkt auf den Stuhl neben der Kasse. »Wenn du meinst, Kaffee hilft«, antwortet sie verzagt. Ihre von langen Strandwanderungen gebräunte Haut ist erstaunlich faltenfrei. Sommer wie Winter vertraut sie auf ihr Glück auf kleinere Bernsteinfunde zu stoßen. Diese »versilbere« ich ihr bei meiner Silberschmiedin in Swinemünde, bei der ich meinen gesamten Schmuck erstehe.
»So schlimm? Ich bin gleich bei dir!«, verspreche ich und haste in die Küche. Schlechte Neuigkeiten verkraftet man mit einer Tasse Kaffee sehr viel besser.

Gitti mochte ich auf Anhieb, als ich sie bei der Übernahme meiner Boutique kennenlernte. Obwohl sie weit über siebzig ist, nimmt sie hier und da kleinere Jobs an, um mit ihrer bescheidenen Rente über die Runden zu kommen. Sie springt problemlos ein, wenn ich Termine habe. Ich bin nicht die Einzige, die in Heringsdorf schummelt und es mit der Angabe ihrer Stunden nicht so genau nimmt. Dafür rechne ich bei mir umso genauer ab, das muss dem Finanzamt genügen.
Gitti trinkt ihren Kaffee schwarz, den ich ihr in einer bunten Tasse reiche, neben der ich ein Tellerchen mit Keksen platziere. Ich stelle meine Tasse ab und sinke auf meinen Korbsessel. Abwartend sehe ich sie an.

»Angeblich werden sämtliche Wohnungen in meinem Mietblock saniert«, lässt die Rentnerin die Katze aus dem Sack. »Wir hatten Glück, in dieser angesagten Ferienhochburg überhaupt bezahlbaren Wohnraum zu finden. Die Gerüchteküche brodelt. Von dem Bau- und Immobilienträger, dem die Häuser gehören, habe ich hauptsächlich Negatives gehört. Soviel ich weiß, gehört ihnen auch dieses Gebäude hier, sodass du unter Umständen ebenfalls von den Maßnahmen betroffen bist.«
Ein kalter Schauer rieselt meinen Rücken herunter. »Bist du sicher?«, hake ich vorsichtig nach. »Unlängst stand in der Zeitung, dass die Wohnungsmieten in Heringsdorf stabil bleiben«, versuche ich meine ältere Freundin zu beruhigen. Und mich gleich mit. Meine Boutique befindet sich nicht in einer der beeindruckenden Villen, die die Kaiserbäder Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin auf der Insel Usedom so einmalig machen, sondern im Erdgeschoss eines der später erbauten moderneren Häuser. Bisher war die Miete erschwinglich.
Was sich nach einer Sanierung rasch ändern könnte.

Gitti hebt die Schultern an. »Eindeutiges weiß keiner. Wie das bei Gerüchten so ist«, schlussfolgert sie und schiebt eine graue Haarsträhne aus ihrer Stirn, die sich aus ihrem locker im Nacken geschlungenen Knoten gelöst hat. »Die neue Brille kann ich mir jedenfalls abschminken«, entscheidet sie verbittert und bläht die Nasenflügel. Sie lässt ihr verbogenes Brillengestell auf dem Nasenrücken hüpfen, das definitiv schon bessere Zeiten erlebt hat. Ihr Leben lang hat sie in den unterschiedlichsten Hotels als Zimmermädchen gearbeitet. Dementsprechend karg fällt ihre Rente aus. »Kommt Zeit, kommt Brille.«
»Du weißt, dass ich dir immer …«
»Ach was!«, wehrt Gitti entschieden ab. »Es reicht, dass ich mir bei dir regelmäßig etwas dazuverdiene.« Sie schiebt ihre Tasse auf den Tisch. »Ich mache mich zum Strand auf. Das Wetter ist umgeschlagen. Mit etwas Glück spült mir eine Welle einen schönen Klumpen Bernstein vor die Füße. Danke für den Kaffee und die Kekse. Man sieht sich.«