Maike Hempel

Leseprobe – „Mallorca – Mütter, Männer, Katastrophen“

Kapitel 1

Köln

Ich war im Begriff zu erwachen. Noch bevor ich die Augen aufschlug, dämmerte mir, dass das nicht mein Bett sein konnte, in dem ich lag.
Hin und hergerissen, zwischen dem Bedürfnis einfach weiterzuschlafen und die Realität auszublenden, blinzelte ich und richtete mich langsam auf. Dabei presste ich das Deckbett an meinen nackten Busen.

Nackt! Ich war nackt!

In meinem Kopf begann sich alles zu drehen, und ein panikartiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.

Nein! Das hast du nicht getan! Nicht du, Melanie Langner!

Aber das seltsame Gefühl wollte nicht weichen.

Aus dem Badezimmer fiel ein schwacher Lichtstrahl in den kleinen Flurbereich des Hotelzimmers, in das ich am Nachmittag kurz mit Sven hatte hinaufgehen wollen, weil uns das Unwetter kalt erwischt hatte …

Definiere kurz, verdammt!, fluchte ich im Stillen, bevor ich die Bilder, die alle kreuz und quer in meinem Kopf durcheinanderflogen, in der richtigen Reihenfolge sortierte. Heute war Samstag.

Der Samstag nach dem Freitag, an dem Johann, mein Zukünftiger, mal wieder spät nach Hause gekommen war. Angeblich, weil er eine wichtige Verabredung zu einem Geschäftsessen hatte!

Und das, nach all den Treueschwüren und den Versprechen, dass so etwas nie wieder vorkommen würde …

Als ob ich nicht schon bei seinem Anruf geahnt hätte, dass es mal wieder so weit war. Sein »es wird später, Süße, du brauchst nicht auf mich warten«, hätte er sich schenken können. Die Ausrede mit den Geschäftsessen, die — so mir nichts dir nichts — in regelmäßigen Abständen vom Himmel fielen, kannte ich nach drei Jahren Beziehung zur Genüge. Er musste sich für einen begnadeten Lügner halten, wenn er ernsthaft glaubte, diese Masche würde bei mir noch ziehen!

Da ich — auch wenn ich nicht auf ihn hatte warten sollen, haha — natürlich nicht hatte schlafen können, war ich kaum umhingekommen, Johanns falsches Spiel auch dieses Mal live mitzuerleben: Der Schlüssel, der vorsichtig ins Schloss geschoben wurde, die Wohnungstür, die ins Schloss rastete, die folgende angespannte Stille, bis der Aktenkoffer sachte auf den Dielen neben dem Schuhrank abgestellt wurde. Ich glaubte Johann förmlich vor mir zu sehen, wie er sich am Rahmen der Wohnzimmertür abstützte, um möglichst geräuschlos aus den Schuhen zu schlüpfen und auf Zehenspitzen zur Garderobe zu schleichen, wo er sich einen Bügel schnappte, mit dem er im Bad verschwand.

Ausgerechnet Johann, der seine Anzüge normalerweise salopp über den Schlafzimmerstuhl warf, stahl sich nach diesen vermeintlichen Geschäftsessen ins Bad, um besagten Zweiteiler ordentlich auf einen Kleiderbügel zu hängen. Und das Hemd vergrub er in der Wäsche. Warum? Weil es einen anderen Duft als seinen eigenen verströmte? Wie blöd kann Mann sein?

Das anschließende Rauschen der Dusche hatte mir die Tränen der Wut in die Augen getrieben. Als könnte das Wasser den Betrug abspülen, den er vor mir zu verheimlichen suchte.

Im Schlafzimmer angekommen, flüchtete Johann sich in die vermeintliche Sicherheit seines Schlafanzugs und ich hatte so getan, als käme ich zu mir. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, suchte nach dem Schalter der Nachtischlampe und knipste das Licht an.

Johanns ausweichende Art sprach Bände, und die flüchtige Umarmung, die er mir angedeihen ließ, bevor er sich beklagte, wie anstrengend der hinter ihm liegende Tag verlaufen sei, bestätigte meine Vermutung, dass es in der nächsten Zeit öfter später werden könnte. Toll!

An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen, zu bitter stieß mir die Enttäuschung über sein scheinheiliges Verhalten auf. Ich wartete, bis ich ihn regelmäßig atmen hörte, schlich aus dem Schlafzimmer und tigerte in der Wohnung auf und ab. Wie lange wollte ich mir dieses respektlose Verhalten noch gefallen lassen?

So war ich am nächsten Morgen in die Stadt geflüchtet und über die Domplatte gestürmt, als wäre der Teufel hinter mir her. Die Passanten, die mich argwöhnisch musterten, waren mir keineswegs entgangen. Mit dem wehenden Trenchcoat und der fliegenden roten Mähne, meinem, nach der durchwachten Nacht sicher viel zu blassen Gesicht, musste ich den Eindruck einer rasenden Furie hinterlassen haben, die sich ihren Weg durch die Menschenmassen in der Kölner Fußgängerzone bahnte. Erst der erschrockene Gesichtsausdruck einer älteren Frau, die mich ansah, als befürchte sie, ich könne sie mitsamt ihrem Rollator über den Haufen rennen, brachte mich zur Besinnung.

Exakt in diesem Moment hatte ich beschlossen, mich von Johann zu trennen, und es überraschte mich, wie klar und rational mein Entschluss in mir wiederhallte. Fast so, als hätte ich tief in meinem Inneren schon länger gewusst, dass ich ganz sicher nicht mit einem Mann zusammenbleiben wollte, der in regelmäßigen Abständen Bestätigung bei anderen Frauen sucht.

Augenblicklich löste sich mein Bedürfnis nach ausgiebigem Frustshoppen in Luft auf. An meinen Lieblingsläden war ich sowieso längst vorbeigestürmt. Ich würde bei Johann ausziehen und brauchte eine eigene Wohnung. Da machte es kaum Sinn, sinnlos Geld zu verplempern!
Bestimmt könnte ich vorrübergehend bei meiner Freundin Unterschlupf finden. Mia wetterte schon seit Längerem, weil ich mich nie dazu hatte durchringen können, mich Johann gegenüber zu behaupten.

Ein Gefühl absoluter Erleichterung durchströmte mich, und ich blieb ruckartig stehen. Ich schaute zwischen den Häuserfronten, die die Fußgängerzone begrenzten, zum Himmel auf, unter dem die Wolkendecke aufriss. Vereinzelte Sonnenstrahlen glitten wie das Licht eines Lasers über die Köpfe der hin- und hereilenden Menschen hinweg. Die Vorstellung, gleich nach Hause zu gehen und meine Sachen zu packen, erfüllte mich mit einem Hochgefühl. Keine Lügen und keine falschen Versprechungen mehr. Göttlich!

Ich setzte mich wieder in Bewegung, dieses Mal jedoch ohne zu hetzen. Ich beschloss, die nächste Bahn in Richtung Köln-Ehrenfeld zu nehmen, um mein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

In Gedanken war ich schon dabei meinen Koffer zu packen. Ich überlegte, worauf ich keinesfalls verzichten konnte, bis ich eine eigene Wohnung gefunden haben würde, da prallte jemand so heftig gegen meine Schulter, dass ich stolperte. Mein rechter Fuß knickte um und ich sackte wie ein Häufchen Elend auf die Knie.

Das Hochgefühl, das mich noch eben erfüllt hatte, war verschwunden. Durch meinen Knöchel schoss ein stechender Schmerz, und als ich versuchte aufzustehen, umfasste jemand mit kräftigen Händen meine Schultern, um mir auf die Beine zu helfen.

Ich hob das Gesicht an und beim Anblick der Augen, die so blau waren wie ein Sommerhimmel über dem Meer, war mein Fuß vergessen. Dunkelblonde, zerzauste Haare umrahmten ein markantes Männergesicht und ich ertappte mich bei der Frage, wie sich diese wundervollen Lippen wohl auf meinem Mund anfühlen würden.

»Ich hoffe, Sie haben sich nicht verletzt! Ich bin aus dem Laden gestürmt und war völlig in Gedanken. Es tut mir leid!«, versicherte der Traum von einem Mann, der mir gegenüberstand und fixierte mich skeptisch. »Ist Ihr Knöchel verletzt?«

Erst da dämmerte mir, dass ich ihn immer noch anstarrte. Ohne den Blick von ihm zu lösen, bewegte ich abwesend, wie in Trance, meinen Fuß hin und her.

»Ich bringe Sie zu einem Arzt«, entschied der Hüne und endlich besann ich mich, schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.
»Nein, danke, es geht schon. Mir ist nichts passiert«, versicherte ich und wollte mich verabschieden, als er mich am Ellbogen festhielt.

»Darf ich Sie wenigstens auf eine Tasse Kaffee einladen?«

Was für ein Lächeln!

Mir wurde heiß und kalt auf einmal. Hätte er mich nicht zu Fall gebracht, wäre ich spätestens bei diesem Anblick gestolpert. Es war höchste Zeit für mich, den Rückzug anzutreten.

Ich entzog mich seiner Berührung und trat noch einen Schritt weiter zurück. »Es tut kaum noch weh, sehen Sie?« Linkisch bewegte ich meinen Fuß. »Ich muss auch wieder …«

»Hören Sie!«, bestand er auf seinem Angebot, »nur eine Tasse Kaffee, bitte! Ich kann Sie nicht gehen lassen, ohne mich davon überzeugt zu haben, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.«

Jetzt geriet ich schon in Versuchung, seine Einladung anzunehmen. Schließlich gab es Schlimmeres, als mit diesem Prachtexemplar von einem Mann einen Kaffee trinken zu gehen.

Zum Beispiel, Johann aus meinem Leben zu entfernen, schoss es mir durch den Sinn, und so besehen fühlte sich die Aussicht auf eine Tasse Kaffee, an der Seite dieser Sahneschnitte, wie ein Pflaster auf einer blutenden Wunde an.

Nachdem ich zugestimmt hatte mitzukommen, schlang der Hüne wie selbstverständlich seinen Arm um meine Taille, um mich zu stützen, falls mit dem Fuß noch etwas sein sollte, und das fühlte sich gut an. Sehr gut sogar!

Schade nur, dass Johann so ungerne shoppen ging. Dieses Bild, mich, im Arm eines anderen Mannes zu erwischen, hätte ich ihm von Herzen gegönnt. Und es gab nach gestern Nacht wenig, das ich ihm noch gönnte.

Eh ich mich versah, waren wir in eine der Seitenstraßen abgebogen und standen vor einem Café. Der Fremde blieb stehen.

»Ach, wie unhöflich von mir. Ich habe mich gar nicht vorgestellt! Ich bin Sven. Sven Bjorndal.«

Er streckte mir die Hand entgegen, und ich erwiderte seinen Händedruck.

Erstaunlich, wie gut sich meine kleine Hand in seiner anfühlte.

»Mel«, hauchte ich hingerissen und schaute zu ihm auf. »Melanie Langner, genau genommen.«

»Mel?«, wiederholte er und seine Stimme klang wie tropfender Honig. »Mel, mit den roten Haaren und den grünen Augen. Und so wurde es doch noch ein schöner Tag.«

Allen Ernstes hörte ich mich »ja« hauchen und klimperte mit den Wimpern, weil mich schon lange niemand mehr so aus der Fassung gebracht hatte.

Aber schon bugsierte Sven mich, zwischen den Tischen und Stühlen der Außenterrasse hindurch, auf die Eingangstür zu. Obwohl es schon Juni war, saß niemand draußen, weil uns mal wieder ein Tief streifte, dessen Name ich mir — nach all den Tiefs, die uns in der letzten Zeit heimgesucht hatten — beim besten Willen nicht merken konnte. Die Temperaturen waren entsprechend bescheiden.

Drinnen, setzten wir uns an einen freien Tisch. Eine dralle Brünette mit Schürze nahm die Bestellung auf, während ich mich aus dem Trenchcoat schälte. Auch Sven entledigte sich seiner Lederjacke.

Es dauerte nicht lange, da waren wir in ein angeregtes Gespräch vertieft, und es verblüffte mich, wie unbefangen ich mich in seiner Nähe fühlte, weil wir absolut auf der gleichen Wellenlänge lagen. Von da an genoss ich Svens Aufmerksamkeit in vollen Zügen.

Der fast zwei Stunden später folgenden Einladung zum Essen, hatte ich geschmeichelt zugestimmt und leichtsinnigerweise schon am Nachmittag Wein getrunken. Auf dem Weg zur Bahn, zu der Sven mich — ganz Gentleman — begleiten wollte, öffnete der bedeckte Himmel seine Schleusen. Wir spurteten in die Lobby seines Hotels, um nicht völlig durchnässt zu werden.

Tja, und da war es irgendwie passiert …

Mann, das ist überhaupt nicht meine Art! Ich mache so etwas nicht. Ich überlege, bevor ich handle. Ich bin nicht spontan. Schon gar nicht spontan genug, um …

Ich strich mir die wuseligen Locken aus dem Gesicht und wandte mich zögerlich der Gestalt zu, die neben mir im Bett lag und selig schlief.
Die hohen Wangenknochen ließen sein Gesicht hart und unnachgiebig erscheinen. Nur wenn er lächelte, entspannten sich seine Züge und ein winziges Grübchen bildete sich neben seinem linken Mundwinkel. Mein Atem beschleunigte sich, während ich ihn betrachtete. Dabei war er gar nicht mein Typ … Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich ihn gerne nochmal geküsst hätte …

Nur geküsst? Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.

Ja, ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn sich meine Finger in seine muskulösen Schultern gruben, während er …
Du solltest sehen, dass du vom Acker kommst!, ermahnte ich mich ernüchtert. Nichts stellte ich mir peinlicher vor, als dass er wach werden könnte und nicht wüsste, wie er sich von mir verabschieden sollte. Nicht, dass ich mich mit solchen Situationen auskennen würde, aber wie anders sollte das enden?

Beim Blick auf den Radiowecker zuckte ich unweigerlich zusammen. Wir waren gegen fünf Uhr ins Hotel gestürmt, inzwischen war es halb elf! Die zuvor durchwachte Nacht hatte ihren Tribut gefordert. Ich war eingeschlafen. Super!

Leise schlich ich mich mit meinen Klamotten, die verstreut vor dem Bett auf dem Teppich gelandet waren, ins Bad. Ich würde mich verdrücken, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Immerhin wusste ich, dass Sven morgen Früh nach Schweden zurückfliegen würde. Für uns gab es keine Zukunft.

Dass mich dieser Gedanke nicht im Mindesten beunruhigte, ließ mich in meiner Bewegung innehalten. War ich, ohne die ach so große Liebe, mit einem Fremden im Bett gelandet?

Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel und verzog verträumt die Lippen.

Nein, ich bereute es nicht. Dieser Traum von einem Mann hatte mir nicht nur deutlich gemacht, was für eine begehrenswerte Frau ich war. Ich hatte endlich mal wieder leidenschaftlichen und absolut erotischen Sex gehabt. Alles hatte sich richtig und gut angefühlt.
Auf leisen Sohlen schlich ich ins Zimmer zurück, schnappte mir den Trenchcoat und meine Handtasche, bevor ich, die Stiefeletten in der Hand haltend, behutsam die Tür öffnete und zufrieden mit mir und der Welt, hinaus auf den Flur trat.

***

Auch ich war in der Lage, mich leise in die Wohnung zu schleichen. Ich hatte den Trenchcoat kaum von den Schultern gestreift, da stürmte Johann in den Flur.

»Könntest du mir bitte erklären, wo du um diese Zeit herkommst?«, blaffte er mich an und es kam mir wie die Ironie des Schicksals vor, dass er sich so aufregte. Wenn zwei das gleiche taten …

»Ich hatte ein Geschäftsessen und es ist später geworden«, antwortete ich und legte den Kopf zur Seite. »Ganz spontan«, säuselte ich, während ich aus den Stiefeln schlüpfte.

»Du hattest heute deinen freien Tag und natürlich war ich bei Mia im Café. Aber die wusste auch nicht, wo du steckst! Auch auf dem Handy warst du nicht zu erreichen!«

»Akku leer«, hauchte ich und betrachtete Johann vom Scheitel bis zur Sohle.

Ja, Johann war genau mein Typ. Dunkle Haare, ebenso dunkle Augen, der klassische Latin-Lover-Verschnitt. Nur, dass das leider auch anderen Frauen auffiel. Was nicht weiter dramatisch wäre, sähe Johann sich in der Lage, die Finger von ihnen lassen. Leider konnte er nicht allzu oft widerstehen.

»Wo warst du?«, knurrte er und trat einen Schritt auf mich zu.

Bemerkte ich da eine Spur von Unsicherheit?

»Geschäftlich unterwegs«, wiederholte ich und bedachte ihn mit einem betörenden Augenaufschlag. »Du weißt ja, wie das ist. Man lernt jemanden kennen, fühlt sich zu zueinander hingezogen, verabredet sich — und vergisst die Zeit …«

Johann packte mich an den Schultern und schüttelte mich. »Du willst mir nicht weismachen, du hättest —«

Fassungslos geriet er ins Stocken, als er das triumphierende Aufblitzen meiner Augen wahrnahm.

»Du hattest gestern ein Geschäftsessen, meines war heute, Johann.« Genüsslich schleckte ich mir über die Oberlippe. »Und es war ein Traum von einem Essen.«

»Das ist nicht dein Ernst, Mel! Hör zu, ich kann dir das alles erklären!«

Mitleidig sah ich ihn an. »Ich will es aber nicht hören, Johann. Nicht mehr!«

»Mel, bitte, komm runter! Wir wollen heiraten, und du hast »ja« gesagt!«

»Stimmt. Habe ich«, versicherte ich gelassen. »Dabei war nur nie die Rede davon, dass du auch weiterhin geschäftlich essen gehst. Dass Anwälte ihren Lebensunterhalt damit verdienen, zuweilen die Wahrheit etwas zu verdrehen, wusste ich. Dass du mich weiterhin belügen und betrügen würdest, wusste ich hingegen nicht. Und deshalb packe ich jetzt meine Sachen, Schatz! Vielleicht kannst du ja vorübergehend das Betthäschen von gestern Nacht dazu überreden, hier einzuziehen. Sie muss ja nur bleiben, bis du die nächste Tussi am Start hast.«

»Mel, ich bitte dich, wir können doch über alles reden!«

Ich hatte es vorhergesehen! Immer der gleiche Text. Ich kannte ihn in- und auswendig!

Entschlossen befreite ich mich aus seinem Klammergriff. »Dieses Plädoyer wäre verschwendete Liebesmühe. Spar es dir für eine Andere auf.« Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen, schnappte mir den Kellerschlüssel, um meinen Koffer heraufzuholen.

Eine knappe Stunde später, es war längst nach Mitternacht, betätigte ich Mias Klingel. Sie musste noch wach gewesen sein, denn der Summton des Türöffners erklang nur wenige Sekunden später.

Ich schob die schwere Haustür auf und wuchtete meinen Koffer samt der Reisetasche in den zweiten Stock. In der geöffneten Tür lehnte meine Freundin im Türrahmen. Sie war schon im Schlafanzug.

»Du?«, hauchte sie ungläubig und ließ ihren Blick abwechselnd zwischen dem Koffer und meiner Reisetasche hin- und hergleiten.

»Darf ich dich um Asyl bitten?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Ich habe mich endgültig von Johann getrennt.«

Mia riss die Augen auf. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder!«, stöhnte sie dramatisch, bevor sie mir den Koffer abnahm und zurück in die Wohnung ging. »Klar, komm rein. Die Couch im Wohnzimmer ist bequem und schnell bezogen.«

»Danke!«, seufzte ich erleichtert.

»Kein Ding. Soll ich dir ein wenig Platz in meinem Kleiderschrank machen?«, fragte sie und schaute sich in ihrem gemütlichen Wohnzimmer um. »Nein, ich räume morgen die alte Kommode für dich aus«, verwarf sie die Idee. »Da ist eh nur Gerümpel drin. Dann hast du ein Zimmer für dich. Das erscheint mir besser zu sein.«

Während Mia Bettzeug, Wäsche und ein duftendes Laken aus ihrem Schlafzimmer anschleppte, zog ich, an diesem Tag zum dritten Mal, die Stiefelletten aus. Ich kramte meinen Waschbeutel, den Schlafanzug und ein paar dicke Wollsocken aus der Reisetasche.

Genauso hatte ich mir das vorgestellt. Das ausgezogene Sofa, die mexikanische Überdecke, die zusammengelegt daneben auf dem Boden lag, weil die Polster in die Jahre gekommen waren und Mia damit den abgenutzten Bezug kaschierte; die vor Büchern überquellenden Regale, einschließlich der vielen, vielen Erinnerungsfotos, die liebevoll gerahmt, an den Wänden hingen. Die Vorhänge zog meine beste Freundin energisch zu, damit die Nachbarn aus dem gegenüberliegenden Haus durch die Glastür, die auf den kleinen Balkon führte, nicht hereinsehen konnten.

»So«, stellte sie befriedigt fest, weil sie mein herzhaftes Gähnen bemerkt hatte. »Und jetzt nehmen wir noch einen Absacker, meine Liebe!«

Sie beobachtete mich eingehend. »Ist, außer der Tatsache, dass du Johann endlich den Laufpass gegeben hast, noch etwas passiert?

Irgendetwas stimmt nicht, ich kann es förmlich riechen. Komm, ich kann sowieso nicht schlafen, ehe ich auf dem Laufenden bin.« Mit dieser Ansage verschwand sie in den Flur.

Ich gab mich geschlagen, immerhin kannte ich Mia, seit wir zusammen zur Grundschule gegangen waren. Sie würde kaum Ruhe geben, bis sie mich auf kleinste Kleinigkeit ausgefragt haben würde.

In der Küche angekommen, ließ ich mich auf einen der Stühle sinken, die um den weiß gestrichenen Holztisch standen. Die Möbel und Einbauschränke hatte Mia vom Vormieter übernommen, weil sie sie eigentlich schön fand. Nur die dunklen Holzverblendungen hatten sie gestört. Also war sie in den nächsten Baumarkt gefahren, hatte sich mit Pinsel, Farbrollen und Ölfarbe eingedeckt und hatte alles in Weiß aufgehübscht.

Jetzt öffnete sie den Kühlschrank, brachte eine Flasche gekühlten Weißwein zum Vorschein und schnappte sich zwei Gläser, in die sie die helle Flüssigkeit gluckern ließ. Sie setzte sich mir gegenüber, prostete mir zu, trank einen Schluck und begann, mit den Fingernägeln auf der Tischplatte zu trommeln. Für mich ein deutliches Zeichen, ganz am Anfang zu beginnen.

Mias Gesichtsausdruck veränderte sich während meiner Schilderung wie in einem Zeitraffer. Zuerst noch zeigte sie aufgebrachte Wut über Johanns unmögliches Verhalten. Später grinste sie, als ich ihr von meinem Köln-Marathon berichtete. Bei meinem Zusammenstoß mit Sven angekommen, weiteten sich ihre Augen, in denen ich ungläubiges Staunen erkennen konnte, als ich ihr gestand, mit einem wildfremden Mann in seinem Hotelzimmer geschlafen zu haben.

»Ich fasse es nicht!«, rief sie schockiert. »Meine Mel, die immer so anständig war, krallt sich in der Fußgängerzone den Traumschweden und hat wilden Sex mit ihm?«

»Ich habe ihn mir nicht gekrallt!«, verbesserte ich sie sofort. »Er hat mich über den Haufen gerannt. Außerdem tust du gerade so, als wäre ich das Mauerblümchen schlechthin. Schließlich war Johann nicht der erste Mann in meinem Leben!«

Mia zog eine Schnute. »Natürlich nicht. Aber die Sven-Nummer war absolut untypisch für dich! Gib es ruhig zu.«

Ich nickte und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Einspruch stattgegeben«, räumte ich ein. »Aber mit neunundzwanzig darf ich mir wohl auch mal was gönnen. Zumal ich es nicht bereue!«, betonte ich.

»Was die Frage, die mir auf der Seele brennt, schon beantwortet. Der Sex war demnach allererste Sahne, du bist Johann los, und ich habe die Traummitbewohnerin schlechthin?« Feierlich hob Mia ihr Glas an. »Auf uns, meine Liebe!«

Wir stießen an und ich fühlte mich bei ihr bestens aufgehoben. »Schön, dass es dich gibt.«

»Auf das Dream-Team«, ließ Mia verlauten und strahlte mich an. »Und Johann ist jetzt Schnee von gestern?«

Ich nickte. »Ich brauche keine Lügen mehr und keinen, der mich verarscht. Ich schätze, das Thema Männer werde ich vorerst ad acta legen. Irgendwie scheine ich da kein gutes Händchen zu haben.«

»So schlimm?«, fragte Mia besorgt.

»Naja, wir wollten heiraten«, seufzte ich und ließ den Kopf hängen. »Da gehe ich doch davon aus, dass ein Mann weiß, was beziehungsweise wen er will.«

Auch wenn meine Wut langsam verrauchte, verletzte mich der Gedanke daran, jemandem vertraut zu haben, der mir, wann immer es ihm gelegen kam, ins Gesicht gelogen hatte.

»Und es ist nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert, wie du weißt.« Jetzt schossen mir doch die Tränen in die Augen.

»Och, Süße!«, rief Mia und kam zu mir herüber, um mich in die Arme zu schließen. »Da draußen laufen tausende schöne Männer rum. Der Traumschwede ist der beste Beweis dafür!«

Jetzt schluchzte ich erst richtig los. »Das mag ja sein. Aber mir bringt es nichts, mit irgendeinem Kerl im Bett zu landen! Gut, ich war wütend und verletzt. Aber Sven gegenüber war mein Verhalten nicht fair. Ihn so auszunutzen! Darüber habe ich vorher gar nicht nachgedacht.«

»Mel!« Mia stieß hilflos die Luft aus. »Du bist einfach zu gut für diese Welt. So etwas passiert täglich und überall!«

»Mir bestimmt nicht mehr! Ich suche mir eine Wohnung und mache mein Ding alleine. Und Johann kann sehen, wo er bleibt!«